08.11.2024 Jetzt online: Zusammenfassung des Vortrags "Vom Blitzkrieg zum Hungerwinter. Der Faktor Zeit und die Entgrenzung militärischer Gewalt am Beispiel der Blockade von Leningrad"

Ein leeres Klassenzimmer mit Holztischen und -stühlen sowie einer Tafel
Foto: Colourbox.de

Am 5. November 2024 ging unsere Ringvorlesung „Grenzen und Grenzüberschreitungen militärischer Gewalt“ mit einem Vortrag von Dr.in. Olga Sturkin, Historikerin der Forschungsgruppe „Gewalt-Zeiten“ an der Universität Hamburg, in die nächste Runde. Nachdem der Eröffnungsvortrag von Dr. Henning de Vries am 25. Oktober eine Einführung in die Forschungsthematik gegeben hatte, widmete sich Olga Sturkin dieses Mal dem Phänomen „Zeit“ in der historischen Perspektive des Gewaltgeschehens, welches zur Beschleunigung und Entschleunigung, Antizipation oder zur Synchronisation von Gewalt dient. 

Die Referentin erläuterte, wie sich die militärische Führungsspitze des NS-Regimes im Verlauf des Zweiten Weltkriegs entlang der Ostfront zunehmend für das Aushungern Leningrads entschied. Sie hob hervor, dass es in der Wehrmacht ungeschriebene Normen und Bräuche gab, wie etwa die „Zehn Gebote für die Kriegsführung“, die jedoch stark im Kontrast zum tatsächlichen Verhalten der deutschen Soldaten standen. Diese Normen sahen unter anderem den Schutz der Zivilbevölkerung vor. Das Schicksal Leningrads und das Aushungern der dort lebenden Bevölkerung ergaben sich aus verschiedenen Diskussionsprozessen zu möglichen Zukunftsszenarien für die Stadt. Häufig debattierte die NS-Führung, ob die Stadt besetzt, zerstört oder anderweitig verwaltet werden sollte. Doch bereits vor einer endgültigen Entscheidung wurde das Aushungern der sowjetischen Zivilbevölkerung und Soldaten in Leningrad fest eingeplant.

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Sturkin fügte hinzu, dass die Blockade maßgeblich durch das Scheitern des Blitzkrieges beeinflusst wurde, wodurch Tempo und Zeit zu den wichtigsten Ressourcen wurden. Demnach entwickelte sich ab Herbst 1941 an der Ostfront ein Abnutzungskrieg mit einem unübersichtlichen Zeitplan. Der Begriff „Aushungern“ trat ab Juli 1941 zunehmend als Bestandteil der deutschen Strategie auf, die zur Ausweitung der Hungergewalt tendierte. Im Sommer 1941 war eine „selektive Hungerpolitik“ von Deutschen, die nur Teile der Bevölkerung in der Sowjetunion überflüssig ansah, durch eine allgemeine „Geopolitik des Hungers“ abgelöst worden. Mehrere Quellen spitzen für Ende Juli 1941 zu: Große Gebiete der Sowjetunion müssten sich selbst überlassen bleiben, nämlich verhungern. Trotz der Implementierung dieser Hungergewalt hielt die militärische NS-Führung weiterhin am Zangenmanöver fest. Zudem, so Sturkin, habe Adolf Hitler beabsichtigt, Leningrad und Kiew nicht mit Waffengewalt einzunehmen, sondern durch Aushungern, wie aus den Tagebüchern Joseph Goebbels zu entnehmen ist. Im weiteren Verlauf der Belagerung wurde der Hunger als Form der slow violence zur Ablösung der gescheiterten Blitzkrieg-Strategie im Norden der Ostfront betrachtet. Sturkin verdeutlichte anhand mehrerer Zitate der militärischen NS-Führung, wie diese Denkweise auch innerhalb der Wehrmacht verbreitet wurde. So kann man dem Kriegstagebuch der Oberquartiermeisterabteilung der 18. Armee eine Aussage des Generalquartiermeisters im Oberkommando des Heeres Eduard Wagner entnehmen, wonach „jeder Verpflegungszug aus der Heimat dort die Lebensmittel“ verknappen würde. „Besser ist, unsere Angehörigen haben etwas zu essen und die Russen hungern“. Mit der Eroberung von Schlüsselburg am Ladogasee war der Belagerungsring vollendet. Eine vollständige Blockade gelang den Nationalsozialisten  jedoch laut Sturkin nicht, da einerseits die Zeit gegen die deutschen Belagerer spielte und andererseits das Hungerkalkül nicht aufging: Seit dem Beginn der Blockade bestand eine sowjetische Luftverbindung mit Leningrad, die allerdings auch für andere Zwecke als zur Lebensmittelversorgung genutzt wurde, und die Wasserverbindung über den Ladogasee, die unter ständigem Beschuss stand.

Demnach spielte die Zeit nach dem Scheitern des Blitzkrieges in Leningrad eine zentrale Rolle. Dr.in. Sturkin erklärte abschließend, dass eine Entschleunigung des Kriegsgeschehens durch die Hungergewalt und die zeitlich strapaziöse Belagerung trotzdem nicht zu einer Entschleunigung der Intensität der Gewalt führte.  

Abschließend ist festzuhalten, dass Olga Sturkin mit ihrem Vortrag neue Perspektiven auf die Bedeutung von Zeit für die Entgrenzung militärischer Gewalt aufgezeigt hat, die sich anhand der Blockade um Leningrad  nachvollziehen ließen. Gleichzeitig hat sie weitere Fragestellungen in diesem Bereich angeregt, die uns in den kommenden Wochen im Rahmen unserer Vorlesungsreihe beschäftigen werden. Damit bedanken wir uns ganz herzlich bei unserer Referentin Olga Sturkin  für ihren gelungenen Beitrag sowie bei den zahlreich erschienenen und diskussionsfreudigen Zuhörer*innen.

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