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Tagung „Responsibility to Protect and Humanitarian Interventions – Military Force in the Name of Human Rights?”
6. bis 8. November 2023 in Hannover
Henning de Vries (Marburg) | Stefanie Bock (Marburg) | Eckart Conze (Marburg) | Fabian Klose (Köln)
Das Internationale Forschungs- und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse (ICWC) unter Leitung von Prof. Dr. Stefanie Bock, Prof. Dr. Eckart Conze und Geschäftsführer Dr. Henning de Vries veranstaltete gemeinsam mit der Universität zu Köln, vertreten durch Prof. Dr. Fabian Klose, vom 6. bis 8. November in Hannover das Symposium „Responsibility to Protect and Humanitarian Interventions – Military Force in the Name of Human Rights?“. Die VolkswagenStiftung förderte die Konferenz mit über 40.000 Euro im Rahmen ihrer Themenwoche zu „Menschenrechte in Zeiten multipler Herausforderungen – Perspektiven aus Wissenschaft und Gesellschaft“ und stellte als Konferenzort das Tagungszentrum des Schlosses Herrenhausen zur Verfügung.
Das ICWC adressierte mit seinem Symposium die Fragen, inwieweit Staaten verpflichtet sind, ihre Bürger:innen vor systematischer Gewalt und völkerrechtlichen Verbrechen zu schützen und welche Rolle humanitäre Interventionen spielen können, wenn diese Schutzverantwortung (Responsibility to Protect | R2P) nicht erfüllt wird. Dabei wurde auch diskutiert, wie im Völkerrecht unterschiedliche Verantwortungsregime entstehen und ob diese zu einem Konzept globaler Verantwortung zusammengeführt werden können.
Das Symposium war dabei besonders interaktiv gestaltet: Neben Keynote-Vorträgen und Panel-Inputs profitierten die Teilnehmenden vom intensiven fachlichen Austausch, der zum Beispiel im Rahmen einer Fish Bowl-Diskussion, einem World Café und einer Negativ-Positiv-Konferenz angeregt wurde.
Zunächst führte Dr. Henning de Vries (Marburg) in das Symposiums ein: Ziel sollte es sein, die Grenzen und Grenzüberschreitungen militärischer Gewalt auf der Grundlage der Menschenrechte in Form der Konzepte der Schutzverantwortung und der humanitären Intervention zu analysieren und zu präzisieren. Dafür wurde der thematische Gegenstand des Symposiums entlang verschiedener Aspekte diskutiert, die sich in die folgenden fünf Panels gliederten:
- Future and Challenges of Humanitarian Interventions
- Global Responsibility – Just a Construct?
- Concept and Practice of Humanitarian Intervention(s)
- Whose Responsibility – Whose Protection?
- R2P and Humanitarian Intervention – Outdated Concepts?
Panel 1: Future and Challenges of Humanitarian Interventions
Panel 1, „Future and Challenges of Humanitarian Interventions“, befasste sich mit der Zukunft und den Herausforderungen humanitärer Interventionen. Den Auftakt bildete eine Fish Bowl-Diskussion, moderiert von Dr. Henning de Vries, mit Prof. Dr. Kevin Jon Heller (Kopenhagen), Prof. Dr. Martin Mennecke (Odense) und Prof. Dr. John-Mark Iyi (Kapstadt).
Zunächst gab de Vries eine kurze thematische Einführung in den Status Quo und die Geschichte von Militärinterventionen, um verschiedene Herausforderungen zu verdeutlichen. Dabei wurden politische sowie koloniale Motive hervorgehoben. De Vries stellte zudem das Konzept der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect | R2P) und seine drei Säulen vor: Verhindern (Prevent), Reagieren (React) und Wiederaufbauen (Rebuild). Die wissenschaftlichen und politischen Debatten über die R2P wurden umrissen, wobei unter anderem Russlands Rechtfertigungsversuche für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine als Negativbeispiel dafür benannt wurden, die R2P als einen Vorwand für Krieg zu nutzen.
Die Fish Bowl-Diskussion begann mit einem Input von Heller. Er stellte die Frage in den Raum, ob humanitäre Interventionen eine Zukunft haben und verneinte dies, unabhängig davon, ob sie legal und in der Praxis wünschenswert seien. Heller betonte, dass die Geschichte uns gelehrt habe, dass Interventionen nur eine kurzfristige Lösung böten. Er kam zu dem Schluss, dass humanitäre Interventionen stets eine schlechte Option und in der Regel rechtswidrig seien.
Den nächsten Input gab Mennecke, der vielen Punkten von Heller widersprach und das Konzept der R2P entschieden verteidigte. Er betonte, dass weniger das Konzept an sich oder die Kriterien der R2P problematisch seien, sondern vielmehr unter dem Missbrauch durch Länder wie Russland litten. Eine entscheidende Frage sei, wie darauf angemessen reagiert werden könne. Mennecke plädierte für eine Debatte darüber, welche Ziele mit Interventionen konkret erreicht werden sollen und wie sie umgesetzt werden könnten, einschließlich einer Diskussion über entsprechende Ermächtigungsregeln. Zudem schlug er vor, spezifischer über einzelne Fälle zu diskutieren, in denen die R2P bzw. humanitäre Interventionen bereits durchgeführt wurden.
Iyi forderte schließlich in seinem Beitrag, sich von der Idee der humanitären Intervention zu entfernen und betonte, dass die R2P objektive Kriterien zur Bewertung prekärer Situationen bereitstellen, ein Schema für verschiedene Akteure entwickeln und die verschiedenen Ebenen kalibrieren solle. Er wies auch darauf hin, dass es Zweifel gebe, was die R2P genau erreichen solle. Iyi betonte, dass die Zukunft der R2P von verschiedenen Aspekten abhänge; insbesondere einer möglichen Reform der Entscheidungsregeln für Interventionen – unter Umständen unter Einbezug der UN-Generalversammlung. In seinem Input machte er auch deutlich, dass bereits der Versuch unternommen werde, die R2P anzupassen, was jedoch bislang scheitere.
An die kontroversen Inputs der Panelisten schloss sich eine ergiebige Diskussion mit dem Plenum an, die die genannten Punkte aufgriff und kritisch hinterfragte.
Panel 2: Global Responsibility – Just a Construct?
Das zweite Panel, „Global Responsibility – Just a Construct?“, wurde mit einem Keynote-Vortrag von Savita Pawnday, Direktorin des Global Centre for the Responsibility to Protect, eröffnet. Sie begann ihren Beitrag mit einem Exkurs zur aktuellen Situation des Kriegsvölkerrechts am Beispiel des Israel-Gaza-Konfliktes. Hier zeigten sich ihrer Meinung nach gravierende Missachtungen des Kriegsvölkerrechts seitens Israels – eine Aussage, die sofortigen Widerspruch aus dem Publikum nach sich zog. Um zu beantworten, ob es sich bei der R2P nur um ein Konstrukt handele oder aber um ein praktisches Tool zur Wahrung der Menschenrechte, müsse man prüfen, ob die Weltgemeinschaft tatsächlich bereit sei, sich zu humanitären Interventionen zu verpflichten.
Im nächsten Schritt erläuterte Pawnday, dass Überlebende und Opfer von Gräueltaten oder Kriegsverbrechen grundsätzlich eher positiv gegenüber der R2P und der Anwendung von Gewalt zum Schutz von Menschenrechten eingestellt seien. Hieraus leitet sie ihre Definition der R2P ab: Es handele sich um die Anwendung von Gewalt zum Schutz von Menschenrechten. Die R2P stehe heute noch immer im Schatten der Libyen-Intervention 2011, was die Frage aufwerfe, ob sie ihrem ursprünglichen Zweck noch gerecht werden könne. Dabei sei zu beachten, dass die Folgen humanitärer militärischer Interventionen in der öffentlichen Wahrnehmung oft das eigentliche Eingreifen überwögen. Dies sei vor allem dann der Fall, wenn die Friedenstruppen Teil des Konfliktes würden und über einen langen Zeitraum im Einsatzgebiet blieben. Des Weiteren blendeten westliche Staaten die Erfolge von R2P und humanitären Interventionen im Globalen Süden oft aus. So zum Beispiel im Konflikt zwischen Indien und Pakistan. Andererseits deuten Staaten wie Indien und Pakistan humanitäre Interventionen als „Interventionen zur Selbstverteidigung“. Zukünftig müsse es das Zeil sein, neue Möglichkeiten zu finden, um Massenverbrechen zu verhindern, da aktuelle Optionen nicht immer das Ziel der Prävention verfolgten. Des Weiteren sei es wichtig, das eigentliche Ziel – den Schutz bestimmter Bevölkerungsgruppen – nicht aus den Augen zu verlieren.
Im Anschluss an den Keynote-Vortrag diskutierten die Konferenzteilnehmenden in drei Gruppen die folgenden Verantwortungs-Konzepte: „Universal Individual Responsibility in International Criminal Law“, „Responsibility in Violent Conflicts through R2P and Humanitarian Law“ und „Responsibility through Human Rights“.
Sehen Sie sich hier die Keynote Lecture von Savita Pawnday auf YouTube an.
Panel 3: Concept and Practice of Humanitarian Intervention(s)
Panel 3, „Concept and Practice of Humanitarian Intervention(s)”, startete mit vier Impulsvorträgen von Prof. Dr. Fabian Klose (Köln), Prof. Dr. Hubert Zimmermann (Marburg), Dr. Werner Distler (Groningen) und Dr. des. Hendrik Simon (PRIF), die jeweils unterschiedliche Aspekte von Konzept und Praxis humanitärer Interventionen beleuchteten.
Klose sprach über historische Perspektiven auf humanitäre Interventionen. Humanitäre Interventionen seien schon im 19. Jahrhundert vorgekommen, wobei sich deren Begründungen eher auf die Durchsetzung des Sklavereiverbotes und den Schutz religiöser Minderheiten begrenzten. Des Weiteren beschrieb Klose die Zeit zwischen dem Westfälischen Frieden und dem Holocaust als eine Zeit der Gleichgültigkeit, in der humanitäre Interventionen sehr selten vorkamen. Humanitäre Interventionen seien außerdem Teil von Kolonialismus und Imperialismus gewesen. Dies begründete Klose damit, dass damalige Akteure humanitäre Interventionen nutzten, um eigene Kriege zu rechtfertigen – so beispielsweise das Osmanische Reich. Aus dieser Argumentationskette schloss Klose sein Fazit mit einem Blick auf die Gegenwart: Staaten des Globalen Südens sollten dem Konzept und den Praktiken der R2P aufgrund der Kolonialgeschichte kritisch gegenüberstehen.
Zimmermann besprach im Anschluss die deutsche Außenpolitik hinsichtlich humanitärer Interventionen. Er argumentierte, dass eine weltbürgerliche Verantwortung nur ein Konstrukt sei. Denn sobald diese Verantwortung zum Handeln aufrufe, fühle sich in der Regel niemand verantwortlich, was Zimmermann mit dem fehlenden Willen, Bürger:innen des eigenen Staates in ein Krisengebiet zu entsenden, erklärte. Fortführend sprach Zimmermann von der Bundesrepublik als einer „Verantwortungsrepublik“, welche im Kontext der Nachkriegsordnung in Folge des Zweiten Weltkriegs zu verstehen sei. Dieses Konzept problematisiere die Frage, wessen Verantwortung wem genau gelten sollte, sowie das umstrittene Narrativ von internationaler Verantwortung, welche häufig ein „wir“ gegen „sie“ voraussetze. Der Zweite Weltkrieg habe in Deutschland eine eher ins Inland schauende Identität bewirkt, welche als eine „posttraumatische Belastungsstörung“ in Folge des Krieges zu verstehen sei. Diese Identität machte es erst einmal unmöglich, deutsche Soldaten ins Ausland zu entsenden, dennoch sei die Unterstützung durch militärische und humanitäre Hilfsgüter möglich gewesen. Im Laufe der 1980er und 1990er Jahre sei Deutschland zu einem Teil der größeren Weltgemeinschaft geworden, der gegenüber Verantwortung bestehe, beispielsweise als Teil der Vereinten Nationen. In den folgenden Jahren hätten sich Gedanken zur Verantwortung zur Verhinderung von Gräueltaten, anstatt der Prävention von Krieg, durchgesetzt, wie es noch kurz nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall gewesen sei. Zimmermann stellte unterschiedliche politische Lager in Bezug auf humanitäre Interventionen vor: So könne man Befürworter von humanitären Interventionen, die im rechten politischen Spektrum einzuordnen sind, als Defensive Realisten der westlichen Allianz bezeichnen; solche, die dem linken politischen Spektrum zuzuordnen seien, als Liberale Institutionalisten oder als Humanisten. Kritiker humanitärer Interventionen im rechten politischen Spektrum seien als Ethnische Nationalisten oder als Offensive Realisten zu bezeichnen, die Kritiker des linken politischen Spektrums als Nationale Pazifisten.
Daraufhin stellte Distler die Konzeptualisierung der R2P vor. Hierbei stellte er grundlegend in Frage weshalb wir uns auf Konzepte wie die R2P konzentrieren. Das Recht auf Bestrafung sei die Antwort. Des Weiteren ging Distler auf die Entstehung und die drei Säulen (Prevent, React, Rebuild) der R2P ein. Diese entstanden zwischen 2005 und 2009 und basieren auf der beim UN World Summit entstandenen Resolution A/Res/60/1. Fortführend erklärte Distler, dass die UN versuchten, eine klarere Definition der R2P zu finden, welche sich von der R2P als westlichem Konzept abgrenzen würde. Er erläuterte außerdem, dass die R2P als eines der Konzepte humanitärer Interventionen zu sehen sei, welches keine Automatismen und somit eher eine Opportunitätsstruktur besitze. Dies sei auf politische Machtinteressen zurückzuführen, da Staaten in expliziten Konflikten jeweils entscheiden würden, welche Normen nun gelten.
Simon fokussierte seinen Input auf die missbräuchliche Anwendung humanitärer Interventionen. Hierbei definierte er zuerst, was einen Missbrauch ausmache: Ein solcher finde statt, wenn eine Intervention nicht den Schutz von Menschenrechten als Ziel habe, sondern aus politischen Gründen durchgeführt werde. Des Weiteren ging Simon auf die Zusammenhänge zwischen humanitären Interventionen und Völkerrecht ein: Diskutiere man humanitäre Interventionen, stehe gleichzeitig auch das Völkerrecht zur Debatte. Fortführend stellte Simon sowohl historische als auch aktuelle Beispiele von Missbräuchen humanitärer Interventionen vor: Der Krieg zwischen Russland und dem Osmanischen Reich im Jahre 1877, im Rahmen dessen Russland bereits humanitäre Interventionen missbraucht habe, um politische Ziele durchzusetzen, sowie den aktuellen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Hierbei bezog er sich auf eine Stellungnahme Russlands vor dem IGH, in der Russland humanitäre Gründe als Rechtfertigung des Angriffs auf die Ukraine missbraucht. Zusammenfassend hielt Simon fest, dass humanitäre Interventionen schon immer als Rechtfertigung genutzt worden seien, um Völkerrecht zu umgehen.
Im Anschluss an die Inputs begaben sich die Teilnehmenden zu den verschiedenen Stationen eines World Cafés, an denen die vorgetragenen Themen und Thesen in einem durchwechselnden Diskussionsmodus unter Moderation der Input-Geber:innen aufgegriffen und diskutiert wurden.
Panel 4: Whose Responsibility – Whose Protection?
Panel 4 stand unter dem Titel „Whose Responsibility – Whose Protection?“ und befasste sich mit der Frage, wer tatsächlich durch die R2P geschützt wird. Es wurden diskriminierende Unterschiede und blinde Flecken militärischer Interventionen untersucht. Das Panel begann mit einem einführenden Vortrag von Dr. Noëlle Quénivet (Bristol), und mündete in einer Negativ-Positiv-Konferenz unter Beteiligung aller Teilnehmenden.
Quénivet leitete ihren Vortrag mit einer Erklärung des UN World Summits von 2005 ein, der das Konzept der R2P begründete. Sie konzentrierte sich im Folgenden darauf, wie dieses Konzept im Kontext geschlechtsspezifischer Verbrechen insbesondere gegen Frauen angewendet wird. Ein wichtiger Punkt ihres Vortrags war die Verbindung zwischen R2P und geschlechtsspezifischen Verbrechen. Zudem führte Quénivet einen UN-Bericht aus dem Jahr 2020 über die R2P und Frauen an, welcher unter anderem aufzeigte, dass Frauen und Kinder unverhältnismäßig von den unter die R2P fallenden Krisen betroffen sind. Trotzdem werde geschlechtsbasierte Gewalt in präkonfliktären Situationen in UN-Dokumenten oft nicht als möglicher Grund für eine Intervention berücksichtigt. Quénivet sprach zudem das Problem an, dass der Aspekt des "Wiederaufbaus" – die dritte Säule der R2P – oft vernachlässigt werde und dass Frauen an diesen Prozessen deutlich stärker beteiligt werden sollten. Es gebe eine Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung von Frauen als verwundbar und ihrer tatsächlichen Fähigkeit, aktive Akteurinnen in der Nachkonfliktgesellschaft zu sein. Quénivet betonte, dass Geschlechterrollenerwartungen sowohl Männer als auch Frauen beeinflussten. Jedoch würden Frauen häufig als Opfer dargestellt – beispielsweise im Kontext von Vergewaltigung. Der oben genannte UN-Bericht aus dem Jahr 2020 erkenne allerdings trotzdem an, dass Frauen komplexe Akteurinnen seien und auch die Rolle von Täterinnen einnehmen könnten. Zudem hob Quénivet die Notwendigkeit des Dialogs mit denjenigen hervor, die Konflikte begännen – typischerweise Männer. Sie führte auch aus, dass Frauen stärker an Friedensprozessen beteiligt werden wollten. Zusammenfassend forderte Quénivet eine stärkere Berücksichtigung von Geschlechterfragen innerhalb des Konzepts der R2P, sowie eine aktivere Beteiligung von Frauen im gesamten Aufarbeitungsprozess, um weitere Diskriminierung zu verhindern und effektivere Lösungen zu fördern.
An den Hauptvortrag schloss sich eine Negativ-Positiv-Konferenz an. Die Konferenzteilnehmer:innen wurden hierfür in zwei Gruppen eingeteilt, die sich jeweils mit einer eigenen Thematik befassten: Gruppe 1 besprach den Aspekt „R2P in International Criminal Law“, Gruppe 2 die Frage nach „Gender in Armed Conflict and the Military“. Zunächst sammelten und diskutierten beide Gruppen im Rahmen der Negativ-Konferenz spezifische Probleme. Dann befasste sich jede Gruppe im Rahmen der Positiv-Konferenz mit der jeweils anderen Fragestellung und erarbeitete mögliche Lösungen für die aufgeworfenen Probleme.
Die erste Gruppe der Negativ-Positiv-Konferenz, „Responsibility to Protect in International Criminal Law“, wurde von Prof. Dr. Stefanie Bock (Marburg) moderiert. In der Negativ-Konferenz wurde erarbeitet, dass das Völkerstrafrecht und das Konzept der R2P ähnliche Probleme aufwiesen und eher westlich geprägte Konzept seien. Zudem wurde festgestellt, dass unterschiedliche kulturelle Hintergründe zu verschiedenen Werten und Erwartungen an die Systeme führten. Die Frage, wer entscheidet, ob die nationale Ebene genug zur Strafverfolgung unternimmt, wurde ebenfalls angesprochen. Zudem wurden die Selektivität des Völkerstrafrechts und der R2P, sowie deren politische Motivation diskutiert. Es wurde betont, dass das Völkerstrafrecht nicht präventiv wirken könne und dass es möglicherweise die tatsächlichen Täter:innen vernachlässige und den Opfern nicht ausreichend Gerechtigkeit gewähre.
In der Positiv-Konferenz wurde hervorgeben, dass es keine Alternative zum Völkerstrafrecht gebe und es trotz seiner Unvollkommenheit bestmöglich genutzt werden solle. Die Gruppe kam zu dem Schluss, dass das Völkerstrafrecht ein noch junges System sei, Raum für Verbesserungen böte und nur eines von vielen Tools im Werkzeugkasten darstelle und daher nicht überstrapaziert werden sollte. Des Weiteren wurde erörtert, dass die Erwartungen an das Völkerstrafrecht realistisch bleiben sollten und die akademische Aufgabe darin bestehe, die Welt über das Völkerstrafrecht und seine Möglichkeiten zu informieren.
Die zweite Gruppe der Negativ-Positiv-Konferenz, „Gender in Armed Conflict and the Military“, geleitet von Quénivet (Bristol), Major Dr. Friederike Hartung (ZMSBw) und Linn-Sophie Löber (Marburg), thematisierte die negativen und positiven Aspekte im Zusammenhang mit Gender in bewaffneten Konflikten. In der Negativ-Konferenz wurde die Definition des Gender-Begriffs konkretisiert, der sich auf soziale und kulturelle Normen beziehe. Zudem wurden Herausforderungen wie die Gleichsetzung von Gender mit Frauen, das binäre Verständnis von männlich und weiblich und die organisatorischen Strukturen von Staaten und Institutionen hervorgehoben.
In der Positiv-Konferenz wurde das Bewusstsein für diese Thematik, die Dekonstruktion von Machtstrukturen, regelmäßige Reflexion, das Hinterfragen von Geschlechterstereotypen und etablierten Ordnungen sowie die Berücksichtigung lokaler Kontexte als Ausweg aufgezeigt. Zudem wurde eine Neubewertung von Labels gefordert.
Die Keynote Lecture von Dr. Noëlle Quénivet können Sie sich hier ansehen (YouTube).
Panel 5: R2P and Humanitarian Intervention – Outdated Concepts?
Im letzten Panel des Symposiums, „R2P and Humanitarian Interventions – Outdated Concepts?”, beleuchtete Dr. Rhiannon Neilsen (Stanford) schließlich eine mögliche Zukunft der R2P, die eher auf elektronischen Mitteln der Kriegsführung statt auf dem Entsenden von Soldaten und dem Einsatz herkömmlicher Waffen beruhen könne. Sie schilderte, dass die USA bereits mehrere Male die elektronische Infrastruktur ihrer Feinde gehackt habe – beispielsweise die persönlichen Accounts von Slobodan Milošević, das Netzwerk des irakischen Militärs, oder Online-Konten von ISIS-Mitgliedern. Cyber Humanitarian Interventions sollten die Ausübung von Gräueltaten stören, indem Kommunikation, Transportsysteme oder logistische Lieferketten lahmgelegt werden. Neilsen erwähnte außerdem, dass die Motivation, Massenverbrechen zu begehen, durch das Verbreiten alternativer Informationen verringert werden könne, da sich die Täter häufig in Online-Foren aufhielten und hier gut erreicht werden könnten. Folgende Vorteile der Cyber Humanitarian Intervention hob Neilsen hervor: Die Methoden riefen weniger „Kollateralschäden“ hervor, seien kosteneffektiv, weil keine Truppen entsendet werden müssen, und es handele sich um eine proportionale und umkehrbare Möglichkeit, humanitäre Interventionen durchzuführen. Des Weiteren argumentierte Neilsen, dass Cyber Humanitarian Interventions den politischen Willen zu intervenieren erhöhen und die Umsetzbarkeit der R2P verbessern könnten. Es dürfe nur dann agiert werden, wenn Ausmaß und Wirkungen zu kinetischen Angriffen gleichwertig sind (Tallinn Manual). Und selbst wenn Cyber Humanitarian Interventions missbraucht würden, so Neilsen, seien die Folgen im Vergleich zu traditionellen Interventionen minimal. Neilsen ging auch auf die möglichen Akteure einer Cyber Humanitarian Intervention ein: Dies seien Staaten, die entweder unilateral, in Koalitionen oder unter dem Dach der UN handeln müssten. Ihre Aufgabe sei es, Cyber Humanitarian Interventions zu entwerfen und zu regulieren. Des Weiteren trügen Big Tech-Firmen wie Google oder Meta eine große Verantwortung hinsichtlich der Verwertung und Herausgabe der für eine Cyber Humanitarian Intervention relevanten Datensätze.
Abschließend rekapitulierte de Vries das Symposium anhand eines eigens angefertigten Graphic Recordings und hob hervor, dass die diskutierten Perspektiven auf R2P und humanitäre Interventionen äußerst aktuell seien und dennoch kaum im Fokus der (deutschsprachigen) Wissenschaft stünden. Weitere Kooperationen und Veranstaltungen zu diesem Thema seien daher angezeigt und zukunftsweisend.
Graphic Recording
Das gesamte Symposium wurde von einem "Graphic Recording" begleitet. Sehen Sie sich hier die Ergebnisse an.
Zudem wurde das gesamte Symposium auch live via Instagram (@icwc_mr) begleitet. Dort finden Sie neben einem Interview mit Dr. Rhiannon Neilsen über ihren Vortrag auch einige zusammenfassende Reflexionen ausgewählter Teilnehmer:innen. Zu den Beiträgen gelangen Sie ohne notwendige Anmeldung hier.