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Recht im Anthropozän
Moderation: Philipp Degens, Universität Hamburg
Widerspruchsresponsives Recht: Suchformel gerechter Nachhaltigkeitsformationen
Nils Kohlmeier, Universität Bremen
Nils Kohlmeier fragt nach Möglichkeiten von „Just Transitions“ am Beispiel des Lithiumabbaus in Lateinamerika aus europa-, völkerrechtlicher und rechtssoziologischer bzw. -theoretischer Perspektive. Im Zuge des European Green Deal avisiert die EU, ihre Ökonomien zu dekarbonisieren. Ein wichtiger Baustein hierfür ist das Mineral Lithium, das zur Herstellung von Batterien für Elektrofahrzeuge verwendet wird. Die größten Lithiumvorkommen finden sich im „Lithiumdreieck“ zwischen Argentinien, Bolivien und Chile. Mittels des unionalen Critical Raw Materials Acts (einer Verordnung, i.F.: CRMA) und des Freiwilligen Rahmenabkommens zwischen der EU und Chile (einem Freihandelsabkommen, i.F.: FRA EU-Chile) sichert sich die EU den Zugriff auf die Lithiumvorkommen rechtlich ab. In Ihrer Konzeptionierung gehen CRMA und FRA EU-Chile vom klassischen Nachhaltigkeitsdreieck - Ökonomie, Ökologie und Soziales - aus. Das Dissertationsprojekt untersucht, wie sozial-ökologische Krisen im Zusammenhang mit dem Lithiumabbau ignoriert werden. Es wird argumentiert, dass diese Konflikte auch das Rechtssystem (CRMA, FRAU EU-Chile) beeinflussen. Daher geht Nils Kohlmeier von der These aus, dass sich diese Rationalitätenkollisionen auch in das Rechtssystem hineinübersetzt haben. Deswegen treten sie als eine Vielzahl von Kollisionen verschiedener Rechtsordnungen und Spruchkörperpraxen auf. Nicht nur kollidieren die normierten Sicherungsbestrebungen von Lithium mit unionalen europa- und völkerrechtlich verbindlichen Schutzverpflichtungen, auch lassen sich etwa Kollisionspotentiale hinsichtlich der Frage der Berücksichtigung der Rechtsprechung des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte durch den EuGH antizipieren, dessen Zuständigkeit im Kontext von CRMA und FRA EU-Chile gegeben ist. Hier stellt sich aus Sicht des EuGHs die Frage der Wahrung der Autonomie der Unionsrechtsordnung. Diese Kollisionen nehmen mit Fortschreiten der Umsetzung des European Green Deals zu. Es gilt daher nicht, diese final aufzulösen, sondern vielmehr mittels Prozeduralisierungen in CRMA und FRA EU-Chile punktuell-vorläufige Kollisionsverhandlungen zu normieren. „Just Transitions“ durch bzw. im Recht erfordern also die Implementierung eines widerspruchsresponsiven Kollisionsrechts. Maßstab für die Ausgestaltung eines solchen Kollisionsrechts ist das Konzept eines Nachhaltigkeits- als Gerechtigkeitsprinzips, welches den Begriff der „Just Transitions“ selbst transformiert. Das Recht wirkt transformationsfördernd und -hemmend zugleich. Die Ausgestaltung eines widerspruchsresponsiven Kollisionsrechts trägt diesem Umstand Rechnung, indem es einerseits über Selbstbeobachtungen des Rechts fragt, ob die bestehenden Normierungen in CRMA und FRA EU-Chile unionalen europa- und völkerrechtlichen Nachhaltigkeitsvorgaben genügen. Fremdbeobachtungen des Rechts wiederum ermöglichen eine Kritik dieser Vorgaben aus der Perspektive kritischer Theorien.
Die (Um-)welt retten mit dem Römischen Statut? Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Verbrechen gegen die Umwelt
Lina Ebbecke, Greenpeace
Umweltzerstörung und menschengemachter Klimawandel sind omnipräsent und nehmen rapide zu. Dadurch gefährdet sind nicht nur Tier- und Umwelt, sondern auch menschliche Lebensgrundlagen. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass von 2030 bis 2050 jedes Jahr mindestens 250.000 Menschen an den Folgen des Klimawandels sterben könnten. Bei einer Erderwärmung von 1,5 Grad werden laut IPCC bis 2050 rund 350 Millionen Bewohner:innen von Ballungsräumen unter Wassermangel leiden. Bei zwei Grad sind es sogar 410 Millionen Betroffene und ein Anstieg von Hunger und Mangelernährung um 20 Prozent. Dazu kommen andere Extremwetterlagen, die jetzt schon die Existenzen von Millionen Menschen bedrohen. Auf die weiteren bevorstehenden Veränderungen ist die Welt laut IPCC-Expert:innen nicht vorbereitet. Dabei ist seit den frühen 1990er Jahren international anerkannt, dass ein Zusammenhang zwischen Umweltschutz und der Ausübung von grundlegenden Menschenrechten besteht. Trotz alledem geht die Eindämmung der Klimakrise in Politik und Wirtschaft nur schleppend voran. Wissenschaftler:innen sprechen von der Menschheit als die bedeutsamste Kraft bei der Gestaltung der Erde. Hier könnte nun das Recht eine entscheidende Rolle spielen. Denn das freiwillige Ergreifen von verschiedensten Akteur:innen scheint unzureichend. Es handelt sich um ein Grenzen übergreifendes Problem. Dementsprechend wird schon seit einigen Jahrzehnten die Idee einer internationalen Strafbarkeit für Verbrechen an der Umwelt ins Feld geführt. Befürworter:innen argumentieren, dass so Einzelpersonen strafrechtlich verfolgt und Umwelt und Menschenrechte geschützt werden könnten. Denn wer vorsätzlich die natürliche Umwelt schädigt oder zerstört, zerstört Lebensgrundlagen und verletzt die Menschenrechte, wird dafür aber bisher unzureichend zur Rechenschaft gezogen. Dieser Vortrag soll herausstellen und darlegen, inwieweit eine Anerkennung von Ökozid als internationales Verbrechen rechtlich gesehen ein richtiger Lösungsansatz sein kann. Dabei wird insbesondere über die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu diskutieren sein.
Integration, Sittlichkeit und Anomie. Kritisch-theoretische Überlegungen zur Funktion des Rechts
Rodrigo Maruy van den Broek, Humboldt-Universität zu Berlin
In den letzten Jahrzehnten sind wichtige Beiträge erschienen, welche das Recht als ein sozialpathologisches Phänomen schildern. Dies ist insbesondere im Rahmen der Kritischen Theorie der Fall: Christoph Menke und Daniel Loick haben beispielsweise eine radikale Kritik der Rechtssubjektivität umrissen. Laut Menke operiert die bürgerliche Rechtsform so, dass subjektive Rechte Privatansprüche naturalisieren, entpolitisieren und mithin gegen ethische Reflexion immunisieren. Loicks Kritik hat eine ähnliche Stoßrichtung: „Das Recht (…) fabriziert Subjekte, die ideologisch verblendet, affektiv verarmt, kommunikativ ausgedörrt und politisch passiviert sind.“ Demnach widerspricht das Recht unserer grundlegenden menschlichen Sozialität. In beiden Fällen wird klar, dass das Recht unter Beschuss steht, weil es die Gesellschaft tendenziell auf eine sozialpathologische Weise desintegriert.
Die Kritik des subjektiven Rechts darf nicht dazu verleiten, die Funktion seines objektiven Pendants zu verschleiern. Doch was genau ist die gesellschaftliche Funktion des modernen Rechts? Und wie hängt diese Funktion mit dem Vorhaben zusammen, eine sachgerechte Rechtskritik zu artikulieren?
Als Ausgangspunkt für eine gesellschaftliche Funktionsbestimmung des modernen Rechts bezieht sich Rodrigo Maruy van den Broek auf Habermas‘ These, dass das moderne Rechte eine entscheidende Rolle im Prozess gesellschaftlicher Integration spielt. Wird „gesellschaftliche Integration“ als ein Oberbegriff verstanden, der sowohl soziale als auch systemische Integration umfasst, so erfüllt das Recht eine Vermittlungsfunktion. Das Recht schützt somit die Lebenswelt vor Eingriffen aufseiten des Systems, indem es einen Kommunikationskreislauf zwischen beiden Sphären ermöglicht. Aber Habermas‘ Zwei-Stufen-Modell begegnet einem Problem: Das Recht erscheint als eine zwischen Lebenswelt und System gespaltene Institution, sodass es ungeklärt bleibt, wie es eine funktionale Vermittlung zwischen beiden leisten kann.
Um dieses Problem zu beheben, wendet sich Rodrigo Maruy van den Broek Émile Durkheims Rechtssoziologie zu. Aufschlussreich hieran ist die Einsicht, dass zwischen Recht und Sittlichkeit ein interner Funktionszusammenhang bestehen muss, damit sich das soziale Band nicht auflöst. Das Recht konstituiert dementsprechend eine sittlich eingebettete Institution, welche die anomischen Tendenzen moderner Gesellschaften in Schach hält.