Hauptinhalt

Recht(swissenschaften): Textualität und Medialität

Moderation: Lucie Kahlert, Philipps-Universität Marburg

Wie offen ist die Rechtswissenschaft? Eine Bestandsaufnahme zu Möglichkeiten und Herausforderungen von Open Access

Anna Gerchen, Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW)

Open Access (OA) ermöglicht freien Zugang zu wissenschaftlichen Informationen im Internet. Die Etablierung war finanziell und wissenschaftlich motiviert. Normative Gründe unterstützen auch Open Access: Offener Zugang zu Wissen ermöglicht Partizipation nicht nur für Akteur:innen innerhalb der Wissenschaft, sondern auch darüber hinaus und reduziert so zugangsbedingte soziale Ungleichheiten und ist daher demokratietheoretisch und sozialpolitisch zu befürworten (vgl. Herb 2007). Eine politische Unterstützung von Open Access spiegelt sich in der (finanziellen) Förderung wider. Doch die Etablierung und Akzeptanz von Open Access in der Wissenschaft ist nicht einheitlich (vgl. Demeter et al. 2021). So ist die deutsche Rechtswissenschaft gegenüber der Praxis des Open-Access-Publizierens zurückhaltend. Vor einem professionssoziologischen Hintergrund lässt sich diese Zurückhaltung gegenüber Open Access aus den spezifischen Logiken der Disziplin und ihrer Publikationskultur heraus verstehen. Diese ist historisch gewachsenen und versteht Printpublikationen als Goldstandard. Dies ist zudem eng mit fachlichem Konformismus und spezifischen Mechanismen der Reputationszuschreibung verbunden (vgl. Fischer 2022; vgl. Roxin 2009). Ausgehend von dieser Beobachtung wurde das Projekt Offener Zugang zum Grundgesetz konzipiert, welches zwei Ziele verfolgt: rechtswissenschaftlich/praxisbezogen sowie soziologisch/forschungsorientiert. Das praxisbezogene Ziel ist die Erstellung eines Grundgesetzkommentars, welcher den Wissensbestand zum wichtigsten juristischen Normenwerk der BRD in den Open Access überführen soll. Das Vorhaben betont die Bedeutung von Rechtskommentaren als wichtige Textform in der Rechtswissenschaft, die vorhandenes Wissen zusammenfasst und Rechtstexte in Kontext setzt. Es ermöglicht der Öffentlichkeit einen zugänglichen Einblick in das Recht und bietet Wissenschaftler:innen die Möglichkeit zur Open Access Veröffentlichung. Anna Gerchens Forschung begleitet diese Implementierung des ersten Open-Access-Rechtskommentars in Deutschland und konzentriert sich auf die in der Rechtswissenschaft vorherrschenden Einstellungen zum Open-Access-Publizieren. Zur Ermittlung struktureller Faktoren, welche die Akzeptanz und Förderung von Open Access im Fachgebiet beeinflussen, werden 30 qualitative problemzentrierte Interviews (vgl. Witzel 2000) mit Vertreter:innen der Rechtswissenschaft geführt. Auf der Grundlage dieser Daten zur Wahrnehmung der institutionalisierten Standards des Publizierens in der Rechtswissenschaft und der Einstellungen zu Open Access möchte ich den Möglichkeitsraum für eine stärkere Berücksichtigung und Förderung von Open Access in der Rechtswissenschaft ausloten.

Was ist ein juristischer Autor? Ein Werkstattbericht

Jakob Knapp und Jannik Oestmann, Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie

Jurist:innen schreiben Schrift- sowie Aufsätze, kommentieren Paragraphen, setzen Verträge auf und stellen Bescheide aus, fällen Urteile und entwickeln Gesetzesentwürfe. Texte, die wie kein anderes Medienformat unmittelbar wirkmächtig werden können. Jurist:innen sind insofern nicht nur Ausleger:innen des Rechts, sondern auch dessen Verfasser:innen - aber sind sie auch seine Autor:innen? 

Die deutsche Rechtswissenschaft scheint nur wenig Aufmerksamkeit für die Produzent:innen ihrer Texte übrig zu haben: Die juristische Disziplin verfügt über einen Kanon, welcher auf den ersten Blick nicht auf seine:ihre Autor:innen angewiesen ist, sondern sich ihre dogmatischen Innovationen durch die Aggregierung zu “herrschenden” und “abweichenden” Meinungen in Aufsatzfußnoten, Kommentaren und Ausbildungsliteratur einverleibt. Dennoch ist die Frage nach den Produzent:innen juristischen Wissens in den letzten Jahren aus verschiedensten Richtungen in das Zentrum der aktuellen fachpolitischen Auseinandersetzung gerückt. 

Vor diesem Hintergrund und aus Perspektive der Rechtswissenschaft, Soziologie und Literaturwissenschaft beschäftigen sich Jakob Knapp und Jannik Oestmann grundsätzlich mit der Frage juristischer Autor:innen und präsentieren in ihren Vortrag Ergebnisse eines interdisziplinären Workshops in Form eines Werkstattbericht. Im Anschluss daran stellen Jakob Knapp und Jannik Oestmann einige theoretische Leitsätze für die weitere Erforschung juristischer Autor:innenschaft auf.

Das Projekt des „digitalen Konstitutionalismus“ und seine Grenzen. Zur Entwicklung des Rechts sozialer Medien

Jörn Reinhardt, Hochschule Fulda

Die Vielfältigkeit rechtlicher Normativität zeigt sich in besonderer Weise im Recht der sozialen Medien. Soziale Netzwerke haben neue Formen politischer Öffentlichkeit und öffentlicher Meinungsbildung hervorgebracht. Mit ihren Formaten strukturieren sie die Kommunikation und bestimmen die Bedingungen, unter denen Informationen und Inhalte verbreitet werden. Die für die Social Media-Kommunikation maßgeblichen rechtlichen Standards haben sich durch Selbstregulierung auf Unternehmensseite sowie staatliche und supranationale rechtliche Vorgaben entwickelt. Der Beitrag erläutert die verschiedenen Ebenen des Rechts der sozialen Medien und geht dabei insbesondere auf Theorien des gesellschaftlichen Konstitutionalismus ein. 

Das Recht der sozialen Netzwerke ist im Ausgangspunkt privates Recht. Die „Community Standards“ der privaten Unternehmen legen fest, wie kommuniziert werden darf, welches Verhalten toleriert wird und welches nicht. Über die Sichtbarkeit entscheiden dabei nicht nur ausdrücklich formulierte Regeln, sondern auch technische Standards und Voreinstellungen. So sind weltumspannende transnationale Regelwerke für die Internetkommunikation entstanden. Die großen sozialen Netzwerke Facebook und Co, haben nach einer anfänglichen Abwehrhaltung ihre Verantwortung für eine strukturierte Kommunikationsinfrastruktur zunehmend anerkannt und umgesetzt. Die internen „Hausregeln“ wurden dabei präzisiert und mit Verfahrensgewährleistungen und Aufsichtsstrukturen gekoppelt, die zum Teil staatlichen Gerichten nachgebildet sind („Meta Oversight Board“).

Verfassungssoziologische Ansätze beschreiben Soziale Medien als Selbstkonstitutionalisierung. Diese Ansätze schließen an eine Traditionslinie der soziologischen Jurisprudenz an, die Verfassungsstrukturen als Konsequenz gesellschaftlicher Dynamiken zu begreifen versucht und Anleihen bei Vorstellungen des „lebenden Rechts“ (E. Ehrlich) macht. In seinem Beitrag skizziert Jörn Reinhardt die Intuition der frühen Rechtssoziologie und die Adaption des Ansatzes durch den „Digitalen Konstitutionalismus“. Dabei stellt er die Frage, wie Selbstregulierungsprozesse auf externe Korrekturmechanismen angewiesen sind. Die Gestaltungsmacht der sozialen Medien ist begrenzt. Der Selbstregulierungsprozess wird durch die punktuelle gerichtliche Durchsetzung von Grundrechten und durch gesetzgeberische Entscheidungen flankiert. Digital Services Act und Digital Markets Act sind die jüngsten Rechtakte der Europäischen Union, welche die intransparente Selbstregulierung der Unternehmen begrenzen. In dem Beitrag geht Jörn Reinhardt auf die verfassungsrechtlichen und soziologischen Argumente für eine externe Konturierung von Selbstregulierungsprozessen ein und fragt nach den Konsequenzen für die Theorie des „digitalen Konstitutionalismus“.