Hauptinhalt
Reflexionen des Rechts
Moderation: Doris Schweitzer, Goethe-Universität Frankfurt
Der Abgrenzungsdiskurs der Rechtswissenschaftstheorie. Wissenssoziologische Beobachtungen zur juristischen Dogmatik
Rüdiger Lautmann, Universität Bremen
Die Rechtssoziologie hat als eines ihrer Kernthemen das Verhältnis zur Jurisprudenz. Innerhalb dieser wird vielfach diskutiert, wie die Nachbarwissenschaften, darunter die Soziologie, in die rechtliche Forschung miteinbezogen werden können. Seit der Aufspaltung der Gesellschaftswissenschaft in mehrere Einzeldisziplinen im 19. Jahrhundert sind die Grenzen zwischen den Disziplinen oft durchlässig und überlappen sich. Nur die akademische Jurisprudenz hütet das ‚Eigene‘ wie ihren Augapfel.
Die theoretische Jurisprudenz betont den wissenschaftlichen Charakter, wobei ein hoher argumentativer Aufwand betrieben wird. Es wird die Wissenschaftlichkeit des Fachs bekräftigt, während der Einfluss der Profession darauf aufbaut. Die Rechtsdogmatik ignoriert oft die soziale Genese ihres Erkenntnisstoffs, was in Frage gestellt wird. Meine Analyse charakterisiert die Diskursstrategie der juristischen Methodenlehre nach den drei Topoi Rechtsdogmatik, Selbstand und Normativismus.
1. Rechtsdogmatik besteht im Sammeln und Ordnen vorhandener juristischer Erkenntnisse. Im ersten Jahrzehnt nach der Tausenderwende verdichtete sich der Diskurs zur Rechtsdogmatik. Die Rechtswissenschaftstheorie konnte erfolgreich aufkommende Zweifel am Erkenntniswert besänftigen. Es wurden merkwürdige Wege der Rechtsinterpretation aufgedeckt, die nur in diesem Fach existieren.
2. Der neue Diskurs erfand das Thema ‚Selbstand der Rechtswissenschaft‘. Damit wird postuliert, dass dieses Fach prinzipiell keine Zufuhr oder Stützung von außen brauche. Um das zu begründen, begab man sich auf die Suche nach einem ‚Proprium‘ der Rechtswissenschaft, womit so etwas wie ein unverwechselbares Charakteristikum oder Alleinstellungsmerkmal gemeint war. Die Rechtswissenschaft setzt sich mit Erosion und Infiltration auseinander und diskutiert die Bedeutung juristischer Theorien. Der "Selbstand" der Disziplin wird durch Internationalisierung, Interdisziplinarität und Vergleich der Rechtskulturen herausgefordert.
In ihrer Selbstdeutung fixiert sich die Rechtswissenschaft auf geltende Gesetze und Normen, die zusammen das positive Recht ausmachen. Dieser ‚Normativismus‘ sucht eine Zwischenstellung zwischen den Polen ‚Reine Rechtslehre‘ und ‚Freirechtslehre‘. Eine krude Trennung zwischen Sein und Sollen prägt weithin das rechtstheoretische Allgemeinwissen. Zur Frage, wie die soziale Realität methodisch richtig in die juristische Entscheidung eingeht, gibt es bis heute keine Antwort.
Die Rechtshistoriographie als Reflexion des Rechtssystems
Karlson Preuß, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Wenn wir an die Formen denken, mittels derer sich das Recht selbst beschreibt und reflektiert, fällt der Blick schnell auf die Rechtstheorie. Niklas Luhmann etwa, der in seiner Rechtssoziologie großen Wert darauflegt, das Recht als sich selbst beschreibendes System zu verstehen, räumt der Analyse der Rechtstheorie viel Platz ein. So setzt er sich ausgiebig mit den Werken Hans Kelsens, Ronald Dworkins und H.L.A. Harts auseinander und diskutiert Rechtstheorien vor dem Hintergrund der Struktur des Rechtssystems, vor dem Code Recht/Unrecht und vor der Konditionalprogrammierung des Rechts. Seine Ausführungen dienen dem Nachweis, dass Reflexionstheorien des Rechts auf rechtstypischen Plausibilitäten beruhen, die für Fremdbeschreibungen des Rechts, etwa für rechtssoziologische Analysen, keine Geltung beanspruchen können.
Neben der Rechtstheorie verfügt das Recht allerdings auch über weitere Formen, sich selbst zu reflektieren. Systeme bzw. Felder wie Recht, Medizin, Ökonomie und Kunst besinnen sich nicht nur in ihren system- bzw. feldspezifischen Theorien auf sich selbst, sondern auch in ihrer Geschichtsschreibung. Systeme bzw. Felder setzen sich auch in ihren historischen Selbstbeschreibungen mit sich selbst auseinander. Gerade im Recht, dessen Geschichtsschreibung zu großen Teilen in den Händen ausgebildeter Juristinnen und Juristen liegt, werden historische Darstellungen gerne für die Reflexion des Rechtssystems genutzt.
Ziel des Beitrages ist es, diesen Aspekt der Rechtsgeschichtsschreibung näher zu beleuchten. Am Beispiel einschlägiger rechtshistorischer Werke des 20. Jahrhunderts, etwa F. Wieackers Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (1952) und B. Rüthers Die unbegrenzte Auslegung (1968), soll veranschaulicht werden, inwiefern sich das Rechtssystem in seinen historischen Selbstbeschreibungen selbst reflektiert. Moderne Rechtsgeschichte verfolgt häufig den pädagogischen Zweck, die Rechtspraxis zu verbessern, beeinflusst von juristischen und rechtspraktischen Interesse. Diese Interessen äußern sich etwa im konventionellen Narrativ vom Aufstieg und Fall der „Begriffsjurisprudenz“, das inzwischen von den quellenkritischen Forschungen Regina Ogoreks, Joachim Rückerts und Hans-Peter Haferkamps herausgefordert wurde. Der Beitrag wiest auf die blinden Flecken der Rechtsgeschichtsschreibung hin und stellt die Potentiale interdisziplinärer Zusammenarbeit mit der Geschichtswissenschaft und der historischen Soziologie heraus.
Von Menschenrechten und „Sprachpolizei“: Sprache im Kontext von Recht und Gesellschaft
Alexandra Obermüller, Justus-Liebig-Universität Gießen
Der Philologe Victor Klemperer verarbeitete die nationalsozialistische Schreckensherrschaft unter anderem mit Tagebuchschreiben und schuf damit eine Chronik der LTI, der Lingua Tertii Imperii. „Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewußter [sic!] ich mich ihr überlasse“1, schrieb er und bemerkte, dass „Worte […] wie winzige Arsendosen [sein können]: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da“. Klemperers Tagebücher vermitteln das Potential und die Macht der Sprache. Selbst unter Menschen, welche dieselbe (Mutter-)Sprache teilen, können bestimmte Worte bzw. Ausdrücke marginalisierend wirken, indem sie etwa eine akademische Bildung offenbaren und damit andere Menschen aus der Konversation ausgrenzen. Sprache dient zudem der Kategorisierung und Identifizierung unserer Welt und unserer individuellen Identitätsbildung. Dennoch gründen sich einige Fremdzuschreibungen auf Stereotypen und Stigmatisierung, welche diskriminierend und verletzend sein können, beispielsweise rezipiert ein Kind eine Beleidigung nur, eine erwachsene Person verwendet eine Begrifflichkeit nur aus Gewohnheit, ohne dabei den*die Adressat*in beleidigen zu wollen. Doch wie Klemperer schon betonte: auch unbewusste und kleine Giftdosen richten auf Dauer großen Schaden an.
In einer Zeit, in der transnationale Konflikte und rechte Parteien zunehmen, scheint die Bedeutung von Sprache oft vernachlässigt zu werden. Dabei hat Sprache das Potential, Politik und Recht maßgeblich zu beeinflussen. Es stellt sich die Frage, ob dieses Potential genutzt wird, um Diskriminierung zu verhindern oder um Hass zu schüren. Ein rechtsethnologischer und ethnolinguistischer Blick von Klemperers LTI beleuchtet diese Gefahr und stellt sie in den Kontext der heutigen Gesellschaft, Politik und Rechtssysteme.