02.06.2021 Bilder-Dialog: Im Gespräch mit Hans-Hendrik Grimmling
Kraftvolle Bewegung, starke Farbkontraste und dominierendes Schwarz – Hans-Hendrik Grimmlings Arbeiten erzählen Geschichten von Unruhe und Aufbegehren, aber auch von Schmerz und vom Scheitern. Im digitalen Bilder-Dialog am 27. Mai 2021 gab der in der DDR aufgewachsene Maler im Gespräch mit Museumsdirektor Christoph Otterbeck und Kunstvermittlerin Samira Idrisu Einblick in sein künstlerisches Schaffen. Ausgangspunkt für das Künstlergespräch waren die drei großformatigen Werke Grimmlings, die seit 1988 als Ankauf oder Schenkung in die Marburger Sammlung kamen.
Grimmling (geb. 1947 in Zwenkau), der an den Kunsthochschulen in Dresden und Leipzig in den Klassen von Werner Tübke und Wolfgang Mattheuer studierte und später Meisterschüler bei Gerhard Kettner wurde, war schon früh von einem Streben nach Freiheit und Widerständigkeit geprägt, stets begleitet von einem Bedürfnis nach Provokation, das in einer dominanten Formsprache bis heute Ausdruck in seiner Kunst findet.
Zu Beginn des Gesprächs beschrieb der Künstler die Ausstellung des 1. Leipziger Herbstsalons im Jahr 1984 als Schlüsselmoment seiner Schaffensphase in Ostdeutschland. Die beteiligten Künstler mit sehr unterschiedlichen Ausdrucksformen einte die Wut über vorherrschende Strukturen und die Suche nach neuen Wahrnehmungsmöglichkeiten. Trotz des Erfolges der Veranstaltung bewegte Grimmling im Anschluss unter anderem eine tiefe Melancholie über deren Nicht-Wiederholbarkeit schließlich zum Verlassen der DDR. Rückblickend bezeichnete der Künstler die ein Jahr später entstandene und 1987 in die Marburger Sammlung gelangte Arbeit zu schnell gelaufener hase (1985) als „Abschlussbild der Generation Herbstsalon“. Es zeigt die verzerrte Figur eines gehäuteten Tieres mit zum Schrei weit aufgerissenem Maul. Den Rezipient/innen bietet der Künstler, wie in vielen seiner Bilder, verschiedene Lesarten an. So steht das grelle Rot zum einen als Signalfarbe für die Verwundung und den Schmerz der Einzelfigur, zum anderen für das Rot des sozialistischen Staatssystems der DDR, das Ende der 1980er Jahre kurz vor dem Zusammenbruch stand.
Mit der käfig ist offen (1987) befindet sich seit 2020 das erste in Westberlin entstandene Gemälde des Künstlers in der Marburger Sammlung. Auch diese Arbeit sei von einer „verhängnisvollen Dialektik“ bestimmt, so Grimmling, welche das neu gewonnene Freiheitsgefühl nach dem Verlassen der DDR in Frage stellt. Der Käfig ist offen, aber der abgebildete Vogel ist leblos, kopflos und entstellt. Die Metaphorik des Fliegens sei hier als ein Verlangen des „Sich-immer-wieder-verändern-Wollens“ zu lesen, aber auch als das ständige Scheitern an diesem Traum. In Erinnerung an die damalige Umbruchszeit bemerkte Grimmling, dass ein Freiheitsgefühl zunächst wieder neu aufgebaut werden musste, Westberlin sei für ihn bei der Ankunft ein „Käfig der Freiheit“ gewesen. Gestillt wurde diese Sehnsucht durch Museumsbesuche und Ausflüge, die in der DDR nur eingeschränkt möglich waren.
Im Gegensatz zu den beiden früheren Gemälden charakterisiert aus der mitte (1998) eine abstrakte, beinahe zeichenhafte Bildsprache. Schwarze Formen bewegen sich rechts und links aus der Begrenzung des Bildes hinaus, zwischen ihnen befindet sich in der Bildmitte ein winziges, rotes Dreieck. Grimmling trieb bei der Komposition „eine Begeisterung an der Reduzierung, an dem Schwarz“, welches er „fanalisch eingesetzt“ habe. Wieder spannte der Künstler in der Werkbesprechung einen Bogen zu Ost und West, zu politischen Ideologien und betonte die ganz aktuelle Aufgabe, „die [politische] Mitte zu beschützen“. Auch wenn Grimmling sagt, dass jedes „Bild […] aus mir heraus und nicht aus einer manifestierten oder niedergeschriebenen Absicht“ entstehe, so räumt er doch ein, die Betrachter/innen durch die Formulierung der Bildtitel in Sackgassen zu leiten und ihnen so bestimmte Lesarten anzubieten.
Alle drei Arbeiten verbindet das bewusst Störende, Bedrängende und Unbehagliche ihrer Motivik und Bildwirkung, die zu einer intensiven Auseinandersetzung und Untersuchung des eigenen Menschseins und der zeitgeschichtlichen Situation auffordern. Noch bis Mitte September sind die drei Großformate Grimmlings in den Ausstellungsräumen des Marburger Kunstmuseums zu sehen.
Kristina Gansel