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Milly Steger, Kauernde
Milly Steger
Rheinberg 1881 – 1948 Berlin
Kauernde, 1925
Porzellan, 31 cm hoch
Ankauf 1928
Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts waren Künstlerinnen, die sowohl von der Öffentlichkeit als auch von ihren männlichen Kollegen voll und ganz anerkannt wurden, eine wahre Seltenheit - und in besonderem Maße betraf dies die Bildhauerei. Als Milly Steger um die Jahrhundertwende ihre Liebe zur Kunst entdeckte, wurden Frauen noch nicht an den Kunstakademien zugelassen. Zu dieser Zeit blieb als Ausweg nur Privatunterricht oder die Ausbildung an einer Kunstgewerbeschule. Stegers berufliche Laufbahn begann in der Klasse für Stuckateure und Steinmetze an der Kunstgewerbeschule ihrer Heimatstadt Elberfeld. Neben den handwerklich-technischen Fähigkeiten, die sie dort erlangte, entfachte der Unterricht ebenso ihre Leidenschaft für die Bildhauerei. Ihr großes Talent wurde vom Leiter der Bildhauerklasse der Düsseldorfer Akademie, Karl Janssen, erkannt, woraufhin er ihr für einige Jahre Privatunterricht gab.
Nach ihrer Ausbildung zog Milly Steger 1904/05 nach Berlin und unternahm von dort aus mehrere Studienreisen ins europäische Ausland. Hierbei besuchte sie wichtige Vertreter der zeitgenössischen Plastik wie Auguste Rodin, Aristide Maillol und George Minne in ihren Ateliers und sammelte gleichzeitig Eindrücke von klassischen Renaissance-Skulpturen. Ausschlaggebend für ihre berufliche Laufbahn war 1910 die Einladung des Mäzens und Museumsgründers Karl Ernst Osthaus nach Hagen. In der für die Entwicklung der Modernen Kunst in Deutschland damals wichtigen westfälischen Industriestadt erhielt Steger zahlreiche Aufträge für großformatige Bauplastiken an öffentlichen Gebäuden und wurde 1914 offiziell zur Stadtbildhauerin ernannt.
Die Hagener Zeit verschaffte Milly Steger ein hohes Ansehen innerhalb des ansonsten von Männern dominierten Bildhauermetiers. Nach ihrer Rückkehr nach Berlin 1917 schuf sie in den darauffolgenden Jahren zahlreiche Plastiken, die ihre Auseinandersetzung mit dem Expressionismus dokumentieren. Dabei war der zeitgenössische Ausdruckstanz eine wesentliche Inspirationsquelle für die Künstlerin. Mit ihren dynamischen und grazilen Tänzer/innen-Darstellungen fing sie zum einen die Strömungen der darstellenden Kunst ein und verarbeitete zum anderen die Entwicklung neuer athletischer Körperideale und androgyner Frauentypen.
Die 1925 entstandene Porzellan-Skulptur „Kauernde“ weist ähnliche gestalterische Mittel auf wie Stegers Tänzer/innen-Figuren. Prägnant erscheint vor allem die starke Oberkörperdrehung der hockenden weiblichen Gestalt. Die Hände der Frau umfassen den Ellenbogen und die Schulter der angewinkelten Arme, sodass der Eindruck einer sich schützenden Geste vermittelt wird. Trotz dieser Gebärde wirkt die Haltung des weiblichen Aktes wie eine einstudierte und hochgradig künstliche Pose, die bei voller Körperspannung mühsam gehalten werden kann. Im Gegensatz zu ihren bis dahin entstandenen Plastiken wandte sich Milly Steger ab der Mitte der 1920er Jahre einer naturalistischeren Darstellung des Körpers zu und reduzierte die expressionistischen, geometrisierenden Elemente bei der Gestaltung ihrer Skulpturen. Die „Kauernde“ repräsentiert diese Übergangsphase in ihrem Werk, da zum einen die Vorbilder aus der Welt des Tanzes noch klar erkennbar sind, die Umsetzung des Körpers allerdings deutlich weicher und weiblicher als ihre vorangegangenen Arbeiten ausfällt.
Neben Milly Steger trotzten im Berlin der Zwischenkriegszeit weitere Künstlerinnen wie Käthe Kollwitz, Marg Moll, Emy Roeder und Renée Sintenis dem Vorurteil, Frauen seien zu schwach, um bildhauerisch tätig zu sein. Steger setzte sich kunstpolitisch im 1918 gegründeten „Arbeitsrat für Kunst“ für eine gleichberechtigte Behandlung von Künstlerinnen und Künstlern ein und forderte die Zulassung von Frauen an den Kunstakademien.
Die kleine Porzellan-Skulptur von Milly Steger gehört zu den ersten Ankäufen des Museums. Sie wurde 1928 – also ein Jahr nach der Eröffnung - erworben und trägt zur Reichhaltigkeit des Sammlungsschwerpunktes der Kunst der 1920er Jahre bei. Neben den zahlreichen Schenkungen durch Künstlerinnen und Künstler, die das Marburger Museum zu seiner Neugründung erhielt, zeigt dieser frühe Ankauf die große Aufgeschlossenheit gegenüber der zeitgenössischen Kunst, die das Kunstmuseum heute zu einem Ort der Kunst der Moderne macht.
Marie Winter