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Blick zurück ohne Zorn
Gottfried Diehl
Frankfurt am Main 1896 – 1956 Offenbach
Stillleben, o. J. (um 1923)
Öl auf Leinwand, 50,5 x 49,5 cm
Zum alten Bestand des Kunstmuseums gehört dieses kleine Stillleben des wenig bekannten Malers und Graphikers Gottfried Diehl, das im Saal mit den Werken der 1920er Jahre hängt. Auf den ersten Blick scheint es in die damals beliebte Reihe von Pflanzen und Krügen in knapp bemessenen Raumausschnitten zu passen, wie sie typisch für die Kunst der Neuen Sachlichkeit sind.
Bei einer genaueren Betrachtung fällt dann die entschiedene Künstlichkeit der Komposition auf wie auch die Verwegenheit der räumlichen Konstruktion. Vor einer Orange liegend überragt ein Buch links eine Tischkante und rechts eine halb geöffnete Bildrolle. Diese verdeckt teilweise ein Bild mit zwei Köpfen, welches an einem Krug lehnt, der ebenfalls nur halb zu sehen ist. Vollständig dargestellt sind allein das aufgeschlagene Buch mit weißen Seiten und blass rotem Schnitt sowie ein Blumentopf mit rot blühendem Kaktus. Der Farbauftrag erscheint stumpf und flächig; und doch sind Farb- und Formkontraste sehr bewusst gesetzt. Das Stillleben täuscht Einfachheit und Anspruchslosigkeit nur vor, denn immerhin zitiert es zwei weitere Kunstwerke, die auf der Leinwand ihren Platz finden. Auf der Rolle ist der vielfarbige Ausschnitt einer duftig wirkenden, abstrakten Komposition zu sehen, die sich als impressionistisch bezeichnen lässt. Dahinter steht ein weiteres Kunstwerk, das in einem weitgehend linearen Stil zwei einander zugewandte Köpfe zeigt. Die Gesichter sind mit schwarzer Farbe auf einen beigen Untergrund mehr gezeichnet als gemalt. Es wird sich bei dem dargestellten Motiv um eine hölzerne Druckplatte handeln, die dazu diente, schwarz gedruckte Holzschnitte zu vervielfältigen. Der Künstler inszenierte im Nebeneinander der beiden Bilder einen starken Gegensatz von ästhetischen Möglichkeiten, wie er sie im frühen 20. Jahrhundert selbst erlebt hatte. Die Weichheit und Formlosigkeit des Impressionismus stellt er der Härte und Kontrastfreudigkeit des Expressionismus gegenüber. Beide Wege aber schienen ihm im Laufe der 1920er Jahre nicht mehr möglich, als er dieses undatierte Stillleben schuf.
Insofern lassen sich die Bildzitate als Rückblicke deuten: Es gab das Eintauchen in die Natur, es gab die dramatische menschliche Begegnung. Jetzt aber bleiben davon nur noch abgelegte Bilder – als Objekte zwischen anderen Dingen. Die nach unten hängende, einzelne Blüte des Kaktus wirkt wie eine gemalte Antithese zu den Blumenmeeren eines Nolde, eines Pechstein oder eines Christian Rohlfs. Allein das Orange der Zitrusfrucht scheint von ungebrochener Farbkraft und verweist – möglicherweise – diskret auf die, damals für Diehl wohl noch möglich erscheinende Orientierung, an Cézanne und seinen Früchtestillleben.
Wie die meisten kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert geborenen Männer geriet der Frankfurter Gottfried Diehl in die Strudel des Ersten Weltkriegs. Nach seiner Zeit als Soldat und einer schweren Verwundung begeisterte er sich für den Expressionismus. Er und seine Freunde in der Künstlergruppe „Ghat“ wollten mit ihrer drastischen Kunst aufrütteln und einen Beitrag zum Aufbau einer neuen Gesellschaft leisten. Das wichtigste überlieferte Ziel der nur kurzlebigen Gruppe bestand in dem Versuch, die Einnahmen aus der künstlerischen Tätigkeit solidarisch zu teilen. Es ist leider nicht bekannt, woran dieses Experiment scheiterte und wann die revolutionären Energien verflogen waren.
Im Zweiten Weltkrieg verlor Diehl bei der Bombardierung Frankfurts den größten Teil seines bis dahin entstandenen Werkes, sodass frühe Bilder von ihm eine große Seltenheit darstellen. In der Nachkriegszeit unterrichtete er an der Offenbacher Meisterschule für gestaltendes Handwerk.
Christoph Otterbeck