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„Helmkopf“, „Zyklop“ – oder Räume der Vorstellungskraft

Kleinformatige Bronzeplastik; unter einem fast gänzlich umschlossenen Helm, lugt der Kopf eines Zyklopen hervor.
Henry Moore © The Henry Moore Foundation. All Rights Reserved/VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Henry Moore
Castleford Yorkshire 1898 – 1986 Hadham
Ohne Titel (Helmkopf / Cyclop), 1963
Bronze, Metall; 15,7 x 12,7 x 8,4 cm
Sammlung Hilde Eitel

Neben seinen mehrere Meter hohen Skulpturen, ist die Bronzeplastik des britischen Künstlers Henry Moore im Marburger Kunstmuseum eine seiner kleinsten Schöpfungen (15,5 x 12,7 x 8,4 cm). Der in London aufgewachsene Bildhauer arbeitete zuerst in Stein und Holz und ließ ab 1945 seine Entwürfe in Bronze gießen. Während in den 1960er Jahren – dank seines Erfolges und der technischen Möglichkeiten – seine Werke in zunehmend größerem Maßstab umgesetzt wurden, ist die 1963 entstandene Marburger Plastik ein nur handgroßes Beispiel aus dieser Schaffensphase.

Bereits 1937 kommentierte Moore zum Thema Größe und Maßstab: „There is a right physical size for every idea.(…) The very small or the very big take on an added size emotion” Übersetzung: „Es gibt eine richtige physikalische Größe für jede Idee. (…) Das ganz Kleine oder das ganz Große bekommen eine zusätzliche emotionale Größe.” [Henry Moore, ‘The Sculptor Speaks’, in Listener, 18 August 1937, pp.338–40, in Henry Moore: Sculptural Process and Public Identity, Tate Research Publication, 2015, https://www.tate.org.uk/art/research-publications/henry-moore/henry-moore-the-sculptor-speaks-r1176118, accessed 11 February 2021.] Was genau Henry Moore im Hinblick auf ein Kunstwerk unter „Idee“ verstand, war bei ihm von unterschiedlichen Quellen und Erlebnisse abhängig und lässt sich beispielhaft an dem vorliegenden Werkstück erläutern.

Kleinformatige Bronzeplastik; unter einem fast gänzlich umschlossenen Helm, lugt der Kopf eines "Zyklopen" hervor.
© Foto: Kristina Gansel
Henry Moore © The Henry Moore Foundation. All Rights Reserved/VG Bild-Kunst, Bonn 2021

In geschwungener Form zeigt sich eine an drei Seiten geschlossene und nach außen klar definierte Oberfläche. Das Körpervolumen der kleinformatigen Plastik ist schnell erfasst. Zwei Wölbungen erinnern in ihrer Form an einen Hinterkopf mit Schulter, der wie eine Büste auf einem rechteckigen Sockel präsentiert wird. Von den äußeren Umrissen wird die Aufmerksamkeit der Betrachter/innen auf die vordere Hauptansicht gelenkt: Die zwei übereinander angeordneten großen Öffnungen wirken durch ihre kantigen Konturen wie aus der äußeren Ummantelung herausgeschnitten und geben Einblicke in das amorphe Innere der Plastik.
[Henry Moore © The Henry Moore Foundation. All Rights Reserved/VG Bild-Kunst, Bonn 2021]

Kleinformatige Bronzeplastik; unter einem fast gänzlich umschlossenen Helm, lugt der Kopf eines Zyklopen hervor.
© Foto: Bildarchiv Foto Marburg
Henry Moore © The Henry Moore Foundation. All Rights Reserved/VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Etwas Fremdartiges, aber organisch Anmutendes scheint dort, wie in einer tiefen Höhle, unter einer schützenden Haut auszuharren. Vor die obere Aussparung schiebt sich eine ovale Form ins Blickfeld, gleich einem Organ, mit ausgehöhltem und geriffeltem Körper. Die entfernte Ähnlichkeit zu einem Auge brachte der Plastik den Beinamen „Zyklop“ ein. Wie der Stempel auf der Rückseite bezeugt, ist es der achte Guss von insgesamt neun Exemplaren und fand über das Vermächtnis der Sammlung Hilde Eitel in die Ausstellung des Marburger Kunstmuseums.

[Henry Moore © The Henry Moore Foundation. All Rights Reserved/VG Bild-Kunst, Bonn 2021]

Die Bezeichnung Zyklop für die Plastik von Henry Moore könnte mit dem Ursprung dieser Mythengestalt zusammenhängen, der auf Funde fossiler Elefantenschädel zurückgeführt wird. Knochen- und Gesteinsformationen oder Pflanzen dienten ihm als Inspirationsquelle, in denen er Strukturprinzipien erkannte, die Einfluss auf Ausdruck und Gestalt seiner Plastiken hatten.

Gleichzeitig stellt die Bezeichnung „Ohne Titel (Helmkopf)“ die Plastik in den Kontext einer gleichnamigen und mehrteiligen Werkgruppe. Bei seinem Studium antiker Skulpturen und Rüstungen erkannte der Künstler ein Grundprinzip menschlicher Denk- und Handlungsmuster. Die Vorstellung von „äußerer Hülle und innerem Kern“ wurde zum zentralen Thema in Henry Moores Werken. Die Notwendigkeit von Schutz und Geborgenheit erlebte er während des Krieges in den Londoner Untergrundbahnschächten als Schutzräumen genauso wie bei Müttern, die ihre Kinder mit den Armen umschließen. Den Künstler faszinierte der Gegensatz von geschlossener / schützender und offener / verletzbarer Form. Diese Idee griff Moore in Werkgruppen wie Internal / External oder in der Serie Helmet / Heads auf.

Bereits 1939 stellte Moore in seinen Kopfstudien Two Heads sein neues Raumkonzept vor, das erstmals den Negativ- oder Hohlraum einer Plastik mit einbezog und so im Dialog zwischen Körper und Raum, Innen und Außen, Enge und Weite, Helligkeit und Dunkelheit agierte. Entstanden in den 1940 bis 50er Jahren dann zunächst abstrakte Helmplastiken mit ausgesprochen martialischem Charakter und surrealistisch figuralem Innenleben, so entwickelte Moore in den 1960er Jahren zunehmend biomorphe Körper mit weichen Formen und fließenden Konturen, die namentlich zu den Helmetheads verschmolzen.

Mit wechselndem Standort vor dem Objekt ergeben sich immer wieder neue Perspektiven ins Innere der Plastik. Der Blick schwankt zwischen hell reflektierenden amorphen Gebilden, diffusen Bereichen und solchen, die stark überschattet werden und sich in tiefer Dunkelheit der Wahrnehmung unserer Augen entziehen. Henry Moore verarbeitete auch in der Marburger Bronzeplastik die Faszination, die Höhlen, Labyrinthe und verborgene Räume auf ihn ausübten. Seine Plastik ist ein künstlerisches Angebot an alle Betrachter/innen, sich auf eine differenzierte Raumwahrnehmung einzulassen.

Michaela Haas