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Lovis Corinth, Bacchanal

Drei nackte, ineinander verschlungene Paare stehen vor einem offenen Feld. Dahinter tanzen weitere, schemenhafte Figuren ausgelassen um den von zwei Tigern gezogenen Wagen des Bacchus.
© Bildarchiv Foto Marburg

Lovis Corinth
Tapiau 1858 – 1925 Zandvoort
Bacchanal, 1921
Öl auf Lindenholz, 57,8 x 73 cm
Ankauf mit Mitteln der Hessischen Kulturstiftung, Museumsfreunde, Sparkasse Marburg-Biedenkopf und Privatspenden 1996

Für den deutschen Maler und Grafiker Lovis Corinth waren vor allem jene Szenen, die von Überfluss, Lust und Wahnsinn nur so strotzen, ein beliebtes Bildmotiv. Das nur wenige Jahre vor seinem Tod entstandene Werk Bacchanal – eine ausschweifende Feier zu Ehren des griechischen Wein- und Fruchtbarkeitsgottes Bacchus – ist in vielerlei Hinsicht gewaltig.

Drei nackte, ineinander verschlungene Paare stehen vor einem offenen Feld. Dahinter tanzen weitere, schemenhafte Figuren ausgelassen um den von zwei Tigern gezogenen Wagen des Bacchus.
© Bildarchiv Foto Marburg

Im Zentrum des Bildes stehen drei nackte, ineinander verschlungene Paare vor einem offenen Feld. Dahinter tanzen weitere, schemenhafte Figuren ausgelassen um den von zwei Tigern gezogenen Wagen des Bacchus. Im vorderen Bildabschnitt schmiegen sich in der linken Ecke zwei vor einem Busch sitzende, gesichtslose Gestalten aneinander. Zu ihrer Rechten steht ein weiteres, in einen Kuss gelehntes Paar. Während die Körperformen schwungvoll, gleichzeitig aber präzise ausgeführt wurden, sind die Gesichtszüge nur vage zu erahnen. Das Paar im rechten Vordergrund ist am klarsten definiert: Eine gehörnte Gestalt, deren Kopf mit einem Blätterkranz geschmückt ist, beugt sich tief über den entblößten Leib einer weiblichen Figur und fasst ihr dabei lüstern an die Brust. Die Frau – eine Mänade oder Nymphe – wendet sich leicht von diesem ab; sie hat ihren Kopf in den Nacken geworfen, ob aus Erregung oder Schmerz bleibt offen. Der Satyr – halb Tier, halb Mensch –, der in der griechischen Mythologie zu dem dämonischen Gefolge des Bacchus gehört, folgt hemmungslos seinen sexuellen Trieben. Bacchus selbst ist nicht im Bild zu sehen.

Der Bildraum wirkt beinahe überladen mit den vielen wild agierenden und üppigen Gestalten. Der unruhig-expressive Pinselduktus lädt das Bildgeschehen zusätzlich spannungsvoll auf, die Körper verschmelzen sowohl miteinander als auch mit ihrer Umgebung und werden, besonders im Bildhintergrund, zu einer fast unkenntlichen Masse tanzender Gliedmaßen. Erdtöne dominieren die Farbpalette, wobei sich die hellen Frauen- und dunklen Männerkörper stark voneinander abheben. Vermutlich war auch Corinth – der von Inkarnats- und Fleischdarstellungen fasziniert war – von der, sich seit dem 18. Jahrhundert verbreiteten und von rassistischen Vorurteilen geprägten Auffassung beeinflusst, nach der die Oberfläche weißer Haut als Verkörperung der Reinheit galt. Mit dem Wissen um dieses spezifische, wenn auch problematische Verständnis, gleicht die zentrale Handlung einem dämonischen Übergriff auf die personifizierte Unschuld und bewegt sich so auf einem schmalen Grat zwischen Leidenschaft und Gewalt, Rausch und Enthemmung.

Fulminante Feiern und Alkoholexzesse waren aus Corinths Künstler-Dasein nicht wegzudenken, wie seine 1926 posthum erschienene Autobiografie verrät. Dort berichtet er unverblümt von den ausschweifenden Nächten seiner Studienjahre in München und Paris, aber auch später in Berlin, wo er 1901 die „Malschule für Weiber“ gründete und seine Lebensgefährtin, die Künstlerin Charlotte Berend-Corinth, kennenlernte.

Gleichzeitig war Corinth ein ausgezeichneter Geschäftsmann. Als Maler, Lehrer, Aussteller, Autor und Mitglied verschiedener Vereinigung für Kunstschaffende pflegte er ein ausgezeichnetes Netzwerk an Kontakten, das ihm nicht nur zahlreiche Aufträge sicherte und Verkäufe ermöglichte, sondern auch seinen Ruf als geschickten Akteur in allen Bereichen des Kunstbetriebs festigte. Corinth verschrieb sich mit seiner Malerei weder dem impressionistischen noch dem expressionistischen Stil – obwohl er beiden Richtungen zeitweise zugerechnet wurde – und hielt sich abseits von modernen Strömungen wie Pointillismus und Kubismus. Vielmehr zeugen seine Arbeiten von einer großen Lust, sich immer wieder in neuen Stilen auszuprobieren. Insgesamt wird sein Werk mit zunehmenden Alter direkter und reduzierter, der Pinselstrich dynamischer und expressiver – auch bedingt durch einen Schlaganfall im Jahr 1911.

Bacchanal, das 1996 durch Spenden erworben werden konnte, ist Zeugnis eines Malers, der auch in seinem Spätwerk noch voller Schaffensdrang war und Werke von außerordentlicher Kraft und verwirrender Ambiguität hervorgebracht hat. Obgleich im Liebesakt miteinander verbunden, fehlt Corinths nackten Körpern die Anmut und erhabene Formvollendung der griechischen Figuren. Anstelle eines schönen Scheins schafft der Künstler mit Bacchanal eine Darstellung, die das Animalische der Handlung herausstellt und die antike Götterwelt augenzwinkernd kommentiert.

Kristina Gansel