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Schattenseiten

Kahle Bäume im Vordergrund am Ufer eines Sees, im linken Mittelgrund Passanten. Das Blau des Sees, von Lichtreflexen gebrochen, geht im Hintergrund in einen hohen Berg über.
© Pol Cassel; Foto: Bildarchiv Foto Marburg

Pol Cassel
München 1892 – 1945 Kischinew
Vorfrühling, um 1926
Ölfarbe auf Leinwand, 91 x 83 cm

Stiftung Rainer Zimmermann

Das Gemälde Vorfrühling des Dresdner Malers Pol Cassel entstand 1926, als der Künstler für mehrere Monate einen Auslandsaufenthalt in Paris verbrachte. Von der pulsierenden Kunstmetropole zog es ihn immer wieder hinaus in die Natur, ans Meer nach Le Havre und in die Bretagne. Dort, jenseits des Großstadtrummels malte er zahlreiche Aquarelle, in denen er in groben, schnellen Pinselstrichen den Blick auf die weitläufige Küstenlandschaft mit seinen tiefblauen Meeresbuchten und begrünten Ufern festhielt. In einigen dieser Bilder sind weiße Segelboote zu sehen, die den Eindruck eines unbeschwerten Urlaubstages vermitteln – wären da nicht die ungewöhnlich schwarzen hohen Bäume, die teils in strenger Reihung, teils in dichter Gruppierung den Strand säumen und der Szene einen ernsten und düsteren Charakter verleihen.

Kahle Bäume im Vordergrund am Ufer eines Sees, im linken Mittelgrund Passanten. Das Blau des Sees, von Lichtreflexen gebrochen, geht im Hintergrund in einen hohen Berg über.
© Pol Cassel; Foto: Bildarchiv Foto Marburg

Das vermutlich im Nachklang an seine Frankreichreise in Öl gemalte Werk Vorfrühling stellt genau dieses Motiv der „schwarzen Bäume“ großflächig in das Zentrum eines annähernd quadratischen Bildformats. Dunkle Büsche und hohe Bäume verdichten sich im Vordergrund und verstellen die Sicht in die Ferne. Zwischen den knorrigen Bäumen mit ihren dünnen Zweigen ist nur bruchstückhaft eine Hügelkette am anderen Ufer eines silbrig glänzenden Gewässers zu erkennen. Im Gegenlicht zeichnet sich die schwarze Silhouette der Gehölze ab, welche der Künstler in kräftigen Pinselschwüngen und -schraffuren beschreibt. Erst mit der Gewöhnung des Auges an das sehr dunkle Kolorit mischen sich zwischen Schichten der transparent aufgetragenen, schwarzen Ölfarbe auch Farben der Umgebung.

Im starken Kontrast zum grellbunten Farbenfeuerwerk jener Bilder, die Pol Cassel in Paris fertigte, reduzierte er die Farbskala seiner Landschaftsdarstellungen gerne auf den Dreiklang von Blau, Grün und Gelb. Im vorliegenden Ölbild dominiert die Farbe Blau, die mit den weißsilbrigen und rosafarbenen Lichtreflektionen in einer breitgefächerten Farbskala vorliegt. Im Zusammenspiel mit dem gedeckten Grün im Vordergrund und dem Schwarz der Bäume gewinnt sie an Brillanz und Farbintensität. Markant ist eine horizontale Einteilung des Bildes in helle und dunkle Farbstreifen. Die so geschaffene Tiefenwirkung erinnert an das Fernweh des Künstlers, der gerne – sofern es seine finanziellen Mittel zugelassen hätten – durch ganz Frankreich gereist wäre. Seine Pläne und Hoffnungen wurden durchkreuzt. Enttäuschung und ein Gefühl von Ausgrenzung werden sinnbildlich in der vertikalen Betonung der schwarzen Bäume, die die Komposition in ein strenges Raster zwingt. Wind und Wetter oder radikaler Beschnitt haben auch das Geäst in eine unnatürlich winklige Wuchsrichtung gezwungen und verdunkeln nun gespenstisch den Horizont. Wie ein Gitter trennt es die Bildfläche in zwei Sphären: Schatten- und Lichträume. Die diffusen Lichtverhältnisse der frühen Morgenstunden (oder ist es der späte Abend?) im Vorfrühling, verwandeln den dargestellten Naturraum in ein nahezu abstraktes Bildgefüge aus horizontalen und vertikal strukturierenden Flächen.

Eine anfangs im Bild wahrgenommene tiefgründige Ruhe weicht zunehmend einer erdrückenden Stille, die durch das aufgewühlte Wasser und die vorbeiziehenden Personen durchbrochen wird; aber auch sie scheinen wie gefangen zwischen den schwarzen Bäumen. Im undurchdringlichen Dickicht im Vordergrund wird die Situation des Künstlers deutlich, ein Zaun markiert die Grenze der eingeschlossenen Grünfläche und bietet keinen Ausgang nach draußen. Weder die freie Sicht auf die Landschaft noch ein scharfer Fokus auf die nahen Dinge, die im Schatten liegen, sind ihm vergönnt. Ein Lichtblick scheint sich dennoch am Rand des Bildes in der gelben Farbe anzukündigen. Cassel ließ hier nicht die Grundierung der Leinwand durchscheinen, sondern setzte gezielt pastos aufgetragene Farbe an den Rand der Bildfläche, was der Szene etwas von seiner finsteren Dramaturgie nimmt. Ob es nun die aufgehende Sonne ist, die dem Vorfrühlingstag seine kalten Schattenseiten nimmt, überlässt der Künstler aus Dresden der Wahrnehmung und der Vorstellungskraft seiner Betrachter/innen.

Michaela Haas