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Körper und Geist
Willi Baumeister
Stuttgart 1889 – 1955 Stuttgart
Bild mit Hand, um 1929
Öl auf Leinwand, 80 x 60 cm
Ankauf 1929
Beim Gemälde „Bild mit Hand“ von Willi Baumeister aus dem Jahr 1929 handelt es sich um eine der frühesten Erwerbungen des 1927 in Marburg eröffneten Museums. Wie der erste Museumsleiter Albrecht Kippenberger in einer damaligen Publikation schrieb, verfolgte er neben der Hauptaufgabe, Zeugnisse der Kunst- und Kulturgeschichte Hessens zu präsentieren, auch das Ziel, die Sammlung für Eindrücke der Gegenwart offen zu halten. Mit der Aufnahme der Komposition Baumeisters kam ein Kunstwerk hinzu, welches ganz dicht am Puls der Zeit war. Die entschiedene Modernität lässt sich bereits an dem Gefüge rechtwinkliger Felder in den unbunten Farbtönen Weiß, Grau und Schwarz erkennen, welche ein konstruktives Bildgerüst definieren. Dadurch gewinnt die collageartige Zusammenstellung von Elementen eines zeitgemäßen modernen Lebens an Struktur.
Das Hauptmotiv stellt sicherlich die unbekleidete Figur beim Seilspringen dar. Leicht abstrahiert und dennoch betont körperlich dargestellt, hebt sie sich vor einem beinahe rechteckigen schwarzen Bildgrund ab. Ihr Kopf aber ist von einem weißen Feld hinterfangen und damit hervorgehoben. Die durchtrainierte Person entspricht mit ihrem Kurzhaarschnitt dem neuen Typ selbstbewusster moderner Frauen, wie ihn auch Georg Kolbe für seine Großplastik der Kauernden im Garten des Kunstgebäudes wählte.
Die modernste Zutat ist am oberen, linken Bildrand nicht ganz leicht zu erkennen: das Industrieprodukt einer schmucklosen Lampe mit halbrundem Schirm und annähernd kugelförmigem Leuchtkörper. Darunter platziert befinden sich in einem größeren Maßstab eine einzelne Hand, die einen Stift führt, und in einem noch höheren Abstraktionsgrad eine Form, die an ein aufgeschlagenes Buch erinnert.
Links und rechts scheinen zwei tuchähnliche Gestaltungen dem sonst sachlich-geometrisierenden Stil des Gemäldes zu widersprechen, bei denen sich an eine weiße Decke und einen roten Vorhangstoff denken ließe. Deren polare Stellung links und rechts und die kontrastreiche Farbgebung unterstreichen den umfassenden Entwurf eines modernen Menschseins: Körper und Geist dürfen nicht zu kurz kommen; erst die Aktivierung beider Sphären führt zu einem ausgeglichenen Dasein.
Als das Bild entstand, lebte Willi Baumeister in Frankfurt am Main und unterrichtete an der Städtischen Kunstgewerbeschule. Er gehörte zur avantgardistischen Szene rund um die Zeitschrift „Das Neue Frankfurt“, in welcher insbesondere die Fragen der Architektur und des Städtebaus, aber auch des modernen Designs besprochen wurden. Das Gemälde der Marburger Sammlung lässt sich trotz dieser Kontexte nicht vollständig im Sinne eines rationalen Lebensentwurfs deuten. Die wie abgeschnitten wirkende einzelne Hand bringt etwas Befremdliches ins Spiel. Und die Hauptfigur scheint mehr eine Pose einzunehmen, als von wirklicher Dynamik erfasst zu sein. Der rote Vorhang schließlich lässt als barockes Bildzitat an eine bühnenhafte Inszenierung des Zeitgeistes denken.
Christoph Otterbeck