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Ernst Kretschmer, Johannes Klein, Gustav Rohr

Ernst Kretschmer: Der Wissenschaftler als Spezialist für Rassenhygiene

Ernst Kretschmer
Foto: Universitätsarchiv Marburg / Bildersammlung
Der Psychiater Prof. Ernst Kretschmer
Ernst Kretschmer wurde zum Sommersemester 1926 auf den Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie an der Universität Marburg berufen. Gleichzeitig übernahm er das Direktorium der Universitätsnervenklinik. Kretschmer war zu dieser Zeit bereits ein bekannter Wissenschaftler. Sein erfolgreichstes Werk war der 1921 erschiene Band zu Körperbau und Charakter. In diesem ordnete er körperlichen Merkmalen Persönlichkeitstypen und psychischen Erkrankungen zu. Das 1933 erlassene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ begrüßte er ausdrücklich. Damit wurde die gesetzliche Grundlage geschaffen, Menschen unter Zwang zu sterilisieren, die an einer der explizit aufgeführten Erkrankungen wie beispielweise „angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, erblicher Blindheit oder Taubheit“ litten. Der Psychiater sollte, so Kretschmer, als Spezialist auf konstitutionsbiologischer und damit wissenschaftlicher Grundlage an der an der „züchterischen Verbesserung der Rasse“ mitwirken. In dem gesetzlich vorgeschriebenen Procedere zur Umsetzung der Zwangssterilisation waren Ärzte allumfassend beteiligt. So wurden Patient*innen aus der Universitätsnervenklinik zur Zwangssterilisation angezeigt, Kretschmer schrieb entsprechende Gutachten und entschied als Richter am Erbgesundheitsobergericht über die Umsetzung der Operation. Gleichzeitig musste er 1934 zwei Mal Stellung nehmen zu seiner Auffassung über die Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses.  Die Vorwürfe lauteten, dass er für eine vorsichtige und damit „abwegige“ Anwendung des Gesetzes plädiere und seine Mitarbeiter*innen aufgefordert habe, zurückhaltend bei der Diagnosestellung zu sein. Auch wenn Kretschmers Orientierungsrahmen nicht die NS-Rassepolitik war, galt sein Forschungsinteresse durchaus Fragen der Eugenik. Das zeigen auch seine vergebenen Dissertationsthemen, in denen kontinuierlich erbbiologische Themen und Fragen neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen auf Basis der Konstitutionslehre thematisiert wurden. Eine Neuorientierung seiner Forschung musste weder 1933 noch 1946 stattfinden.

Vertiefung: Günther, Louisa: Psychiatrische Alltagsforschung an der Marburger Philipps-Universität in der NS- und Nachkriegszeit. Analyse der Dissertationen unter Prof. E. Kretschmer und Prof. W. Villinger im Zeitraum von 1926 bis 1959, Diss. Uni Gießen, 2021.

Aumüller, Gerhard; Grundmann, Kornelia; Krähwinkel, Esther; Lauer, Hans H.; Remschmidt, Helmut: Die Marburger Medizinische Fakultät im "Dritten Reich, München 2001.

Rauh, Philipp; Topp, Sascha (Hrsg.): Konzeptgeschichten. Zur Marburger Psychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2019.

Johannes Klein: Grenzgänger

Johannes Klein
Foto: Universitätsarchiv Marburg / Bildersammlung

Johannes Klein verlor 1938 seine Lehrbefugnis, weil er mit einer nach nationalsozialistischer Diktion mit einer Jüdin verheiratet war. Er und seine Frau heirateten 1933. Den Zeitpunkt der Hochzeit begründete er nach dem Krieg in einer autobiografischen Skizze mit seiner Einschätzung, dass ein späterer Zeitpunkt seine Ehe unmöglich gemacht hätte. Johannes Klein ist ein Beispiel für einen „Grenzakteur“. Er war trotz seiner Ehe politisch nationalistisch und militaristisch eingestellt. Zudem sind in seinen Schriften auch antisemitische Tendenzen erkennbar. In der Weimarer Republik gehörte er dem Stahlhelm und dem paramilitärischen Bund Oberland an. Auch in seiner wissenschaftlichen Schwerpunktsetzung, beispielsweise 1929 in seiner Doktorarbeit zu „Walter Flex, ein Deuter des Weltkrieges", zeigt sich seine nationalistische Einstellung. Gleichzeitig war er aufgrund seiner Ehe zunehmend politisch nicht mehr tragbar, was 1938 in dem Entzug seiner Lehrbefugnis mündete. Von 1938 bis 1930 war er als Lektor an der Universität Göteborg tätig, von 1940 bis 1945 arbeitete er als Leiter der Deutschen Akademie in Göteborg. Seine überlieferten Vorträge legen nahe, dass Klein auch während seiner Tätigkeiten in Schweden für die deutsche Politik warb. Einen weiteren Blick auf seinen Lebenslauf finden Sie unter "Verfolgte und Entrechtete".

Vertiefung: Vertiefung: Köhler, Kai: Johannes Klein, in: Köhler, Kai, Dedner, Burghard, Strickhausen, Waltraud: Germanistik und Kunstwissenschaften im "Dritten Reich". Marburger Entwicklungen 1920-1950, Berlin 2005, S. 293 – 331.

 Stolper, Dirk; Wilder, Sarah Christin: Belastung und Reintegration. Die NS-Vergangenheit der Mitglieder der Marburger Stadtverordnetenversammlung und des Magistrats 1945 bis 1989. Marburg 2016, S. 52 – 56.

Gustav Rohr: Zwischen SPD und NSDAP

Bild: Esther Krähwinkel

Nach den Verfolgungserfahrungen von Rohr findet sich 1933 ein erstes Indiz für den Versuch, politisch konform zu erscheinen: Zwischen 1933 und 1934 war Rohr förderndes Mitglied der SS. 1935 trat er der Deutschen Arbeitsfront bei. 1937 schloss er sich der NS-Volkswohlfahrt an und fungierte ab 1938 als Blockwart. Im gleichen Jahr übernahm er auch das Amt als stellvertretender Sportpressewart im NS-Reichsbund für Leibesübungen. Auffällig ist, dass er ebenfalls 1938 von der Arbeitslosigkeit ins Erwerbsleben wechseln konnte. Er arbeitete seit diesem Jahr  in der Möbelfabrik C. Heinrich Hering in der Marburger Barfüßerstraße. Am 1. Juli 1940 wurde er zudem in die NSDAP aufgenommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er in den fünfziger Jahren Stadtverordneter für die SPD. Seine Biographie zeigt, wie sich die politische Positionierung mancher Menschen aus verschiedensten Gründen während der zwölf Jahre NS-Diktatur verändern konnte. In vielen Einzelfällen lassen sich die Jahre zwischen 1933 und 1945 eben nicht auf ein abschließendes Urteil eindampfen, sondern weisen scheinbare Widersprüche auf, die jedoch nebeneinander existieren konnten. So war es möglich, dass manche Menschen beides waren: NS-Verfolgte und Funktionäre des Regimes. Einen weiteren Blick auf seinen Lebenslauf finden Sie unter "Verfolgte und Entrechtete".

 Stolper, Dirk; Wilder, Sarah Christin: Belastung und Reintegration. Die NS-Vergangenheit der Mitglieder der Marburger Stadtverordnetenversammlung und des Magistrats 1945 bis 1989. Marburg 2016, S. 47 – 50.