09.06.2020 Schamanengewand wird restauriert
Wie viele von uns in Corona Zeiten, befindet sich auch unser Schamanengewand zurzeit quasi in Quarantäne:
Es musste die Religionskundliche Sammlung zur Restaurierung verlassen. Wenn ein Objekt unser Haus verlässt, dann regt uns das immer zum Nachdenken an. Was wissen wir überhaupt über dieses reich mit Metallplatten, manche in Vogelgestalt, andere in Menschenform verzierte Gewand aus inzwischen brüchigem Rentierleder.
Es soll aus der Republik Sakha im nordöstlichen Sibirien stammen. Zum Zeitpunkt seiner letztmaligen rituellen Verwendung, vermutlich Mitte des 19. Jahrhunderts, war diese Region noch russische Provinz Jakutien. Noch früher, vor dem 13. Jahrhundert, lebten Jakutinnen und Jakuten größtenteils oberhalb des Lena-Flusses. Durch das Vordringen mongolischer Bevölkerungsgruppen verschob sich ihr Lebensraum allerdings flussabwärts. Seitdem siedeln sie im mittleren Lenatal.
Ojun ist die indigene Selbstbezeichnung jakutischer Schamanen. Mit Ojun sind Personen gemeint, die durch eine Nahtoderfahrung gelernt haben, zwischen der sichtbaren Welt der Menschen und der nicht-sichtbaren Welt der Götter, Ahnen und Geister hin und her zu reisen. Durch diese Fähigkeit sind sie in der Lage, einen Ausgleich zwischen den beiden Sphären herzustellen und dadurch letztendlich auch zu heilen. Religionswissenschaftlich ist der Begriff des Schamanismus allerdings strittig, da er eine kulturübergreifende Existenz einer schamanischen Religion postuliert und lokalspezifische Besonderheiten und Unterschiede der einzelnen Glaubenssysteme und Praktiken außer Acht lässt. Diese unspezifische Verwendung des Begriffes Schamanismus brachte den amerikanischen Ethnologen Clifford Geertz in den 1960er Jahren dazu, Schamanismus als ein westlich idealisiertes Konstrukt zu bezeichnen.
Auch heute gibt es in der Republik Sakha noch als Heiler praktizierende Ojun, obwohl die Bevölkerungsmehrheit, die dem orthodoxen Christentum angehört, der Meinung ist, dass es „den traditionellen Schamanismus“ nicht mehr gäbe.
Für die Religionskundliche Sammlung wurde das Gewand 1961 von der damaligen Kuratorin Käthe Neumann erworben. Aus dem archivierten Briefverkehr geht hervor, dass es damals "für 4000 DM mit 5% Rabatt" von den mit Kunst und Ethnografika handelnden Familien Kegel und Konietzko aus Hamburg angekauft wurde.
Wir vermuten, dass die Herstellung und Nutzung des Gewands auf Mitte des 19. Jahrhunderts zurück geht und hoffen, dass uns die Restauratorin dies bestätigen kann. Vielleicht wird auch die Veröffentlichung von Ulrike Bieker mehr Klarheit bringen. Als das Gewand für den Transport zur Restaurierung vorbereitet wurde, stellten wir fest, dass es ziemlich schwer war, das über die Jahre steif gewordene, trockene Rentierleder von der scharfkantigen und mit rostigen Nägeln zusammengehaltenen Figurine zu lösen. Wir sind froh, dass das Gewand nun einer grundlegenden Restaurierung unterzogen wird und werden darüber berichten, wenn das Gewand in unser Haus zurückkehrt.
#Schamanengewand_revival
Literatur: Bieker, Ulrike. Das Gewand, der Elch, die Vögel, die Geister: Zur Performance eines Schamanen aus Sakha (Jakutien). In: Decker, Doris / Mirko Roth (Hrsg.) Religionen in den Medien - Medien in den Religionen (Marburger Religionswissenschaft im Diskurs). Lit-Verlag: 2020, S. 23 - 52. (im Druck)