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Das Gebäude des Alten Landgerichts
"Erbaut von Gottes Gnaden Ludwigk Landtgraff zu Hessen"
Als im Jahre 1873 für das Gebäude Landgraf-Philipp-Str. 4 Umbauarbeiten erforderlich wurden, entdeckte man den Grundstein aus dem 16. Jahrhundert. Darin eingefügt fand sich ein silbernes Plättchen, auf dessen Vorderseite das hessische Wappenschild mit drei Helmen eingraviert ist und dessen Rückseite folgende Aufschrift trägt:
VON GOTS GNADEN
LVDWIG LANDTGRAF
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NACH CHRISTI(!) GEBVRT
- 1573 -
Wir erfahren damit nicht nur das genaue Datum der Grundsteinlegung, den 4. April 1573, sondern werden gleichzeitig über Auftraggeber und Bauherrn, Landgraf Ludwig, sowie den Nutzungszweck, landgräfliche Kanzlei, informiert. Zu vermuten ist, dass der Landgraf höchstpersönlich an der Zeremonie der Grundsteinlegung beteiligt war. Zwei Jahre später, 1575, ist der Bau vollendet. Das teilt uns die Inschrift über dem Portal mit.
Das Gebäude, manchen Marburgern als die Neue Kanzlei oder das alte Landgericht bekannt, wird heute von der Universität genutzt. Es beherbergt seit dem 12.07.1981 die Religionskundliche Sammlung. Das Fachgebiet Religionswissenschaft und die dazugehörige umfangreiche Bibliothek kamen 1998 hinzu. Weithin sichtbar ragt es über der Altstadt und erinnert an die einstige Bedeutung, die der Landgraf Ludwig dem Bau zugedacht hatte.
Architekt war Ebert Baldewein, zur Zeit der Erbauung der Kanzlei bereits eine angesehene und vielbeschäftigte Persönlichkeit. Baldewein war seit 1550 in landgräflichen Diensten. Ursprünglich gelernter Schneider entwickelte Baldewein erstaunlich vielseitige Begabungen. Neben seiner Tätigkeit als Architekt baute er astronomische Uhrwerke, welche ihm sogar Aufträge am Dresdner Hof einbrachten.
1567 war Baldewein zum landgräflichen Baumeister ernannt worden, nachdem er das ungeliebte Amt als Lichtkämmerer, d.i. Aufseher über Heizung und Beleuchtung des Schlosses, nach vielerlei Eingaben endlich losgeworden war. Als Marburger Hofbaumeister trug Baldewein die Verantwortung für alle landgräflichen Bauvorhaben im Hessisch-Marburgischen Gebiet, aber auch im Hessisch-Kasselischen Raum. Denn neben Ludwig IV. von Hessen-Marburg war es auch dessen Bruder Wilhelm IV. von Hessen-Kassel, der Baldewein mit Schlossbauten in Kassel, Rothenburg/Fulda und Schmalkalden beauftragte. Möglicherweise waren es die Prunkbauten des Bruders, die Ludwig IV. zu dem Kanzlei-Neubau anregten. Gewiss ist, dass die lokale politische Situation dafür ausschlaggebend war.
1527 war das Marburger Rathaus fertiggestellt worden. Der Prunkbau fungierte als Kontrapunkt zum landgräflichen Schloss und demonstrierte das erwachte Selbstbewusstsein des städtischen Patriziats. 1567 war Philipp der Großmütige gestorben und Marburg wieder zur selbständigen Residenz geworden. Philipp vermachte die Landgrafenschaft seinen vier Söhnen der Haupt-Ehe. Die darauf einsetzenden Erbstreitigkeiten, vor allem um den Marburger Teil, waren damit vorprogrammiert. Die Errichtung des Marburger Kanzleibaus als Ort herrschaftlicher Verwaltungsangelegenheiten und gerichtlicher Auseinandersetzungen ist also auch in diesem Zusammenhang zu sehen. Ludwig IV. wollte mit einem neuen Verwaltungsgebäude Selbständigkeit auch gegenüber der Marburger Bürgerschaft zeigen.
Ersetzt wurde damit das von Philipp 1519 errichtete Kanzleigebäude, der sog. Feigenhof, von dem heute nur noch Mauerreste (des Richarzschen Gartens) zu sehen sind, wenn man, vom Markt kommend, die Schlossbergtreppe erklommen hat.
Die Neue Kanzlei wurde von Baldewein als viergeschossiger Bau aus ursprünglich verputzten und bemalten Bruchsteinwänden errichtet. Das schlicht gehaltene Äußere wird durch den Treppenturm mit Portal und drei Volutengiebel akzentuiert. Baldewein orientierte sich an dem zu seiner Zeit bekannten und geschätzten regionalen Burg- und Schlosstyp. Der viergeschossige Giebel hat deutliche Parallelen in den Giebeln der Kasseler und Darmstädter Schlösser, die um 1560 bzw. um 1595 entstanden. Die Giebelfiguren wurden vom Bildhauer Melchior Atzel geliefert.
Die Parallelen sind mehr als rein ästhetische Anspielungen. Wie Ulrich Großmann in seinem Buch Marburger Wahrzeichen feststellt, sollten Konkurrenz und Zusammengehörigkeit der hessischen Landgrafenfamilien deutlich gemacht werden, vor allem aber der Anspruch Marburgs, weiter gleichberechtigt neben diesen Orten zu bestehen. Bis 1604 war das Gebäude Verwaltungs- und Regierungssitz der Landgrafschaft Hessen-Marburg.
Von der Baldewein-Architektur ist weitgehend nur die äußere Hülle erhalten. 1873 erfolgte ein Anbau an der Hangseite und auch das innere Gebäude wurde mehrmals umgestaltet. Das Universitätsjubiläum des Jahres 1927 bescherte dem Gebäude eine neue Haustür und ein neues expressionistisch gestaltetes Geländer für die Wendeltreppe.
Das Kurfürstliche Obergericht für die Provinz Oberhessen bezog 1821 das Gebäude der Landgräflichen Kanzlei. 140 Jahre sollte es nun Gerichtsgebäude bleiben: 1851-1863 als Kriminalgericht, 1864-1867 als neu konstituiertes Obergericht, 1867-1879 als Kreisgericht und schließlich von 1879-1961 als Landgericht Marburg.
Nachdem das Landgericht 1961 in das neue Gerichtsgebäude (Universitätsstraße) umgezogen war, wurde das Gebäude von der Universität genutzt, die in diesen Jahren einen Expansionsschub erlebte. Die Institute für Anglistik und Amerikanistik begannen mit dem Lehrbetrieb im WS 1962/63 bis zum erneuten und bislang endgültigen Wechsel in die Lahntürme (PhilFak).
Von 1967 bis 1978 war das Institut für Europäische Ethnologie hier untergebracht, ebenso das Zentralarchiv der deutschen Volkserzählung (1967-1992).
1982 wurde die Religionskundliche Sammlung, bis dahin im Schloss untergebracht, in den Räumen der Neuen Kanzlei eröffnet. 1998 erfolgte der Umzug des Fachgebietes Religionswissenschaft von der Liebigstraße in die Landgraf-Philipp-Str. 4.
Peter J. Bräunlein (2005)