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Die Sammlung Max Kirmsse - 300 Jahre Wissenschaftsdiskurs über Behinderung, soziale Ausgrenzung und die Herausbildung der Sonderpädagogik

Unter den historischen Sondersammlungen in deutschen Bibliotheken ist die Sammlung des Sonderpädagogen Max Kirmsse eine der faszinierendsten. Titel wie "Buckeliana oder Hand-, Trost- und Hülfsbuch für Verwachsene beiderlei Geschlechts", "On idiocy and imbecility" oder "Zerbrecht die Krücken: Krüppel-Probleme der Menschheit. Schicksalsstiefkinder aller Zeiten und Völker in Wort und Bild" legen Zeugnis ab über drei Jahrhunderte Wissenschaftsdiskurs rund um Behinderung, Erziehungsanstalten, soziale Ausgrenzung und den Versuch ihrer Überwindung. Die als geschlossene Sammlung im OPAC anzeigbaren Titel mit ihren Terminologien veranschaulichen zugleich die Genese und den Wandel eines pejorativen Sprachgebrauchs im Zusammenhang mit Behinderung.

1963 hieß es in der Fachwissenschaft über die Sammlung: „Die sonderpädagogische Bibliothek ist vielleicht das bekannteste Stück aus dem Nachlaß von Kirmsse geworden. Er war ein großer Bücherfreund und der erste, der aus privaten Mitteln eine Fachbücherei über dieses Gebiet zusammenstellte. Mit Eifer, Begeisterung und Findigkeit hat er die Bücher gesammelt. Außer der Literatur über die Schwachsinnigenbildung umfaßte die Bibliothek auch die Pädagogik der Blinden, Taubstummen, Körperbehinderten, Schwererziehbaren und Sprachbehinderten, ferner Kinderpsychologie, Kinderpsychiatrie u.a.m“ (Premerstein 1963: 694).

Fündig werden hier also nicht nur an historischer Literatur Interessierte aus der Sonderpädagogik oder der Medizin. Während die Sammlung auch den in Deutschland kaum präsenten Disability Studies die Historisierung der eigenen Forschung ermöglicht, eignet sie sich durch ihren interdisziplinären Fundus ebenso für sprach- und literaturwissenschaftliche Fragestellungen in den Philologien und für Forschungen zu Intersektionalität, Heimerziehung oder Behinderung in den Politikwissenschaften, der Soziologie oder der Ethnologie.

Die zeitliche Spannbreite der Werke reicht vom frühen 18. bis in das mittlere 20. Jahrhundert und die Zeit der NS-Eugenik. Neben Werken aus Deutschland, Österreich(-Ungarn), der Schweiz, Frankreich, Italien, Spanien, England oder den USA beinhaltet die Sammlung sogar vereinzelte Fachzeitschriften aus Japan oder Chile. Kirmsse reicherte zahlreiche der Bücher und Zeitschriften durch beigefügte Zeitungsartikel oder handschriftliche Kommentare mit Informationen zu Inhalt, Autorin oder Autor an und verwandelte sie so in Unikate. Die Sammlung enthält außerdem viele

Bei dem Marburger Bestand - mehr als 3500 Bände - handelt es sich um den größeren Teil der im weitesten Sinne sonderpädagogischen Sammlung von Max Kirmsse. In Marburg ergänzt er sich ideal mit der Bibliothek Lebenshilfe. Der übrige Teil von der Sammlung Max Kirmsse - etwa 1300 Bände - befindet sich im Heilpädagogischen Archiv am Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Die dortige Verzeichnung als geschlossene Sammlung steht noch aus, dafür ist der Berliner Sammlungsteil geschlossen im Regal aufgestellt. Angestrebt ist die virtuelle Zusammenführung der beiden Bestände.

Links zur Sammlung:

Aufsätze von und über Max Kirmsse im Publikationsserver der UB Marburg:

Max Kirmsse: Ein Museum für Schwachsinnigenbildung und Geschichte und Museum des Schwachsinnigenwesens
Richard von Premerstein: Max Kirmsse, ein Historiker des Sonderschulwesens. Leben und Werk und Kirmsses Forschungen und ihre Bedeutung für eine Geschichte der Sonderpädagogik
Sebastian Pampuch: Die Sammlung Max Kirmsse – eine „hidden collection“ zwischen Sonderpädagogik, Disability Studies und Intersektionalität. Konzepte für einen angemessenen bibliothekarischen Umgang.

Bibliothekarische Fachinformationen:

(Fachreferentin für Erziehungswissenschaften)

Weiterführende Links:

Tipp: Die Sammlung Max Kirmsse enthält viele Werke, die aufgrund ihres Erscheinungsdatums vor 1900 wie die beiden eingangs genannten Beispiele als Digitalisate frei im Netz verfügbar sein könnten. Die Suche lohnt sich!

Eine anregende Lektüre wünscht
Ihr Bibliotheksreferendar 2011-2013
Sebastian Pampuch