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„aber im Verhältnis ist doch alles gut gegangen“ – Der Einmarsch der Amerikaner in Marburg am 28. März 1945
Kriegsende!! Der Tag, auf den wir 5 ½ Jahre gewartet haben, ist da! Friede!! Wenn wir auch nicht die Sieger sind, so hört doch mit diesem Tage endlich das Morden auf!
Mit diesen Worten kommentierte die junge Marburgerin Liselotte Willkens am 8. Mai 1945 die Nachricht von der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht. In Marburg hatte der Krieg freilich schon am 28. März 1945 mit dem Vormarsch von Verbänden der 7th Armored Division der United States Army ein Ende gefunden.
Liselotte Willkens hatte die Zäsur, den Beginn der „Besatzungszeit“, wie sie schrieb, wahrgenommen und wollte ihrem Mann mit einem Tagebuch in Briefform einen Eindruck von dieser neuen Zeit in der Heimat vermitteln. Das Tagebuch sollte an die Stelle ihrer Briefe treten, die Walter Willkens, der noch als Soldat kämpfen musste, wegen des fortschreitenden militärischen Zusammenbruchs nun nicht mehr erreichen konnten. Immer wieder sind ihre Eintragungen von der Sorge um ihr „Walterchen“ geprägt, über dessen Schicksal sie zunächst nichts erfahren konnte. Es sollte allerdings gut für die beiden ausgehen und so lautet der letzte, nicht mehr beendete Eintrag in ihrem Tagebuch:
Montag, den 16. Juni 1945
Walter ist da! Am Nachmittag so gegen 4 Uhr kam er plötzlich an. Nun brauche ich nicht m[hier bricht der Eintrag ab]
Das Tagebuch ist ein interessantes Zeitzeugnis jener drei Monate nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes in Marburg, denn es zeigt unverstellt die Sicht einer jungen deutschen „Otto Normalverbraucherin“ auf die Geschehnisse dieser Tage.
Finden sich in den Aufzeichnungen auch immer noch Bemerkungen zu den fremden Soldaten und den sich in der Stadt nun frei bewegenden ehemaligen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen,[1] die in der Bevölkerung verbreitete und von der nationalsozialistischen Propaganda geprägte Stereotype und geschürte Ängste wiedergeben, so wandelt sich die Haltung doch mit der zunehmenden persönlichen Bekanntschaft mit den Fremden. Selbst zu den zunächst gefürchteten Russen heißt es nun unter dem Datum des 12. April 1945:
Ach, Walter, warum musste alles so kommen? Brauchte dieses Morden überhaupt zu kommen? Heute kamen Hunderte von Russen mit Sack und Pack und Kind und Kegel vorbei. Glaub mir, ich musste bitterlich weinen, als ich die armen Menschen sah. […] Ach, es sind doch alles Menschen, genauso wie wir, wie Du und ich. […] Die armen Menschen tun mir immer bitterlich leid, denn sie haben auch einen guten Teil aller Not uns zu verdanken. Die russischen Offiziere, die immer zu uns kommen, es sind wirklich anständige, sympathische Menschen, […]
Liselotte Willkens lebte zum damaligen Zeitpunkt, obwohl bereits verheiratet, im Haushalt ihres Vaters, des Weidenhausener Fuhrunternehmers Grimmells, in der Weidenhausener Str. 75. Vermutlich hatte sie für Foto Marburg gearbeitet, unmittelbar vor Kriegsende war sie wohl bei der Bahn eingesetzt gewesen. Nach ihrem Tod gelangte ihr Tagebuch als Schenkung in den Besitz des Universitätsarchivs.
Was Liselotte Willkens zunächst als Niederlage und Besatzung wahrnahm, war in der reflektierteren Sicht des Theologen und Professors Rudolf Bultmann (*1884 †1976, 1921-1951 Professor für Neues Testament an der Universität Marburg) eine Befreiung und Erlösung, wie er seinem nach Amerika emigriertem Freund Friedrich Carl Sell im Dezember 1945 schrieb.
Reisen wir nun den Worten der Zeitgenossen folgend zurück in das Frühjahr 1945.
Marburg, den 28. März 1945[2]
Mein lieber Walter!
Da ich Dir nicht mehr schreiben kann, denn es geht ja keine Post mehr, will ich versuchen, die Eindrücke, die ich während der Besatzung hatte, hier in Form eines Briefes an Dich, aufzuschreiben. Vielleicht geht diese Zeit ja bald vorüber und ich kann Dir diese Blätter gesammelt schicken. an Dich schreiben muss ich, denn was einem jeden Tag zur lieben Gewohnheit geworden ist, kann man nicht so einfach aufgegeben. Das Schlimmste für mich ist jedoch, dass ich von Dir keine Post erhalte. Das ist ganz furchtbar, aber ich tröste mich mit Dir, denn Du bekommst ja auch keine.
Mein armer Walter, wie wird Dir zumute sein, wenn Du hörst, dass auch unser schönes Marburg in amerikanischer Hand ist. Aber wir sehen uns wieder. Das glaube ich ganz bestimmt. Und dann wirst Du diese Zeilen lesen und wirst sehen, wie es mir während der „amerikanischen Zeit“ ergangen ist.
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Es ist Mittwoch, der 28. März 1945. Überall gingen schon die Gerüchte umher, die Amerikaner stünden bei Giessen [die Briefstellerin verwendet konsequent Doppel-s statt ß] und könnten in 1 Tag bei uns sein. Es wurde auch erzählt, dass Marburg Festung werden sollte und daher müsste die ganze Zivilbevölkerung zwangsevakuiert werden. Mitten in der Nacht packten wir noch die nötigsten Sachen zusammen. Das meiste war ja schon in den Luftschutzkoffern, aber verschiedene Kleinigkeiten mussten noch mit dazu. Ein paar Bildchen von Dir, mein Walter und noch lauter liebe Andenken. Du kannst Dir denken, wie traurig das Alles war. Die Tränen standen mir in den Augen, als ich mich spät ins Bett legte. Ich wusste ja nicht, ob es die letzte Nacht war, die wir zu Hause schlafen konnten. Schliesslich wurde es Morgen. Kaum waren wir angezogen, gab es Fliegeralarm. Selbstverständlich liefen wir sofort in den Bunker.[3]
Kaum waren wir dort, flogen Verbände über Verbände über uns fort. 300 Stück jedes Mal. Als sie weg waren, knallte es plötzlich an allen Ecken. Artilleriebeschuss! War es nun unsere Arie [Artillerie] oder waren es die Panzer? 3 Stunden sassen wir im Bunker. Vielleicht alle 5 Minuten mal wieder ein Schuss. Schliesslich hiess es, die Panzer sind da. Alles kann nach Hause gehen. Selbstverständlich ging niemand. Als aber nachher alles still war, wagten wir uns doch hervor. Nun hatten wir auch Soldaten im Bunker. Die zogen sich um. Die Fremden mussten sich allerdings stellen. Es war ein trauriges Bild, wie als die Soldaten von überall her mit erhobenen Händen kamen. Alle Soldaten stellten sich freiwillig, keiner leistete Widerstand. Man konnte es ihnen ja auch nicht verdenken, denn sie hatten ja alle keine Waffen. Das ist es auch, was mich am meisten gepackt hat, wenn ich unsere Soldaten mit erhobenen Händen sah und ein Amerikaner mit Gewehr hinterher kam. Die Ausländer standen umher und feixten, die Amerikaner lachten roh auf und unsere armen, tapferen Landser, die unbesiegbar waren, vorher im eigenen Lande. Oh, diese Schande! – Ja, schliesslich wagten wir uns doch nach Hause, denn einmal musste man ja gehen. Überall standen die Panzer herum, waren Zäune umgefahren usw. Du kennst ja die üblichen Erscheinungen eines Kriegsschauplatzes. Aber eins war gut, unser Marburg stand noch unversehrt. Die einzelnen Granaten usw. waren ja nicht weiter gefährlich. Freilich, einige Häuser sind beschädigt, aber im Verhältnis ist doch alles gut gegangen.
Ja und dann kamen die ersten Massnahmen, die eine Besetzung so mit sich bringt. Um 6 Uhr muss alles von der Strasse sein!! Die Leute sahen natürlich zu, dass man noch recht viel auf die Karten kaufen kann. Überall ein Riesenandrang. Die Amerikaner flitzten umher, als wären sie die Herren der Welt. In jedes Geschäft gingen sie, kamen zuerst dran und nahmen sich das Beste. Gleich waren auch schlechte Weiber da, die sich von ihnen die Sachen kaufen liessen. Pfui, kann man da nur sagen. Vorläufig haben wir ja noch zu essen. Die Amerikaner scheinen ganz anständige Kerle zu sein. Ich habe ja noch keinen gesprochen, aber die Leute sagen, sie hätten ihnen Zigaretten und Schokolade geschenkt.
Vor den Amerikanern hat niemand Angst, nur vor den jetzt freigelassenen Russen, Polen, Italienern usw. Die Franzosen sind ja auch anständige Kerle. Karl hat auch Sachen organisiert, die er von den Amerikanern geschenkt bekommen hat. – Aber eine Wohltat ist es, dass ich mich abends ohne Fliegergeschichte ins Bett legen konnte.[4] Kein Alarm mehr, wenn die Panzer und Sturmgeschütze nicht wären, direkt eine himmlische Ruhe. Um 9 Uhr lege ich mich am ersten Tag der Besetzung ins Bett. – Nur ein Gedanke quält mich! Der Gedanke an Dich. Wo wirst Du sein? Was wird aus uns beiden? Ob wir uns noch einmal wiedersehen werden? Das ist für mich im Augenblick das Furchtbarste. Aber ich vertraue auf den lieben Gott, der wird alles besser machen als wir denken. Gute Nacht, mein Walterchen!
Marburg, den 29. März 1945
Gründonnerstag! Herrlich habe ich geschlafen. Ganz ungestört aber trotzdem mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge aufgewacht. Natürlich sind wir in die Stadt gegangen und haben gehamstert. Plötzlich war alles da. Tabak konnte man kaufen, Butter und Fleisch in rauhen Mengen. Alle Leute liefen vollbepackt umher. Die Kasernen, das Bekleidungsamt, Verpflegungsamt etc. pp. hatten die Amerikaner aufgebrochen und die Leute holten sich ballenweise den Stoff und die Schuhe aus den Lagern.
Ich habe natürlich nichts, denn wie kann man einfach so hingehen und sich die Sachen holen? Die Leute haben ja recht, denn ehe es die Ausländer bekommen, sollen es doch noch erst die Deutschen haben. Das Einzige ist, ich habe etwas Wein geholt, da waren allerdings kein Ausländer dabei, sondern nur Deutsche. […]
Marburg, den 30. März 1945
Oh, diese Anstellerei nach Lebensmittel. Es ist furchtbar. Sicher, man kann jetzt alles bekommen, aber man muss Schlange darum stehen. Die wichtigsten Sachen wie Brot, Fleisch und Milch sind sehr knapp. Wenn man aber steht, dann bekommt man was. Manche Deutschen vergessen sich soweit und holen sich dann einfach einen Ausländer, der bekommt die Sachen sofort. Pfui! Wie kann man als Deutscher so handeln. Und solltest Du einmal die Mädels sehen. Denen ist es egal, ob es ein Deutscher ist oder ein Amerikaner. Selbst vor einem N[*] machen sie nicht halt.[5] […]
Marburg, den 31. März 1945
Festsonnabende! Was war das zu normaler Zeit immer ein Betrieb in der Stadt. Wie wurde da geputzt und gescheuert und Ostereier gefärbt. Und diesmal? Ja, ein Betrieb war wohl in der Stadt, aber die Leute stehen alle an nach Lebensmittel. Keiner hat Eier zum Färben. Alle sind froh, wenn sie so ein paar Eier haben. Nun sind auch die Tommys[6] da. Ich bin ja weder mit einem Amerikaner noch mit einem Engländer in Berührung gekommen, aber sie machen alle einen sehr humanen Eindruck. Bis jetzt können wir uns noch nicht beschweren. […]
Marburg, den 1. April 1945
Heute morgen als ich aufstand, war mir gar nicht nach Ostern zu mute. Ostern! Das Fest der Auferstehung. Draussen hört man nur fremde Laute. Oh, Du du arme Heimat, so hast du noch kein Osterfest erlebt. Ich war in der Kirche! Dort war Ostern. Dort konnte man merken, dass unser Heiland auferstanden war. Blühende Zweige standen auf dem Altar. Dazu schien die Sonne so freundlich und hell durch die hohen, gotischen Fenster, dass man gar keinen Gedanken an den harten Krieg hatte. Pfarrer Veerhoff[7] sprach auch so wundervoll dass einem osterlich zu mute wurde .. Und draussen übertönte der wilde Motorenlärm der nachrückenden Truppen eine wundervolle Kantate von Bach. Diese Gegensätze, draussen Kriegsgetöse und hier heilige Musik. […]
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Rudolf Bultmann in einer Anlage an einen Brief vom 14.12.1945 an Friedrich Sell:
Bericht über unser Ergehen in Marburg seit 28. März 1945[8]
Marburg hatte unter den Fliegerangriffen nur wenig gelitten.[9] Nur in der Bahnhofsgegend waren erhebliche Zerstörungen angerichtet worden, und der „Europäische Hof“, die freundliche Stätte manchen gemeinsamen Abendessens, ist fast völlig zertrümmert. Sonst sind hier und dort, z.B. am Eingang von Weidenhausen und in der Umgebung des Friedrichsplatzes einige Häuser zerstört und beschädigt worden. Die Altstadt ist unversehrt geblieben. Wie unheimlich die Zeiten der nächtlichen Verdunkelung, des Brausens der Fliegergeschwader, der fallenden Bomben waren, brauche ich nicht zu schildern. Wir persönlich müssen froh und dankbar sein, dass unser Haus erhalten blieb und bisher auch von der amerikanischen Besatzung nicht, wie die Häuser mancher Freunde und Bekannten, beansprucht wurde.
Der Einzug der Amerikaner am 28. März – von uns als Befreiung und Erlösung begrüsst – war ein nahezu friedliches Ereignis. Wir wussten, dass die Amerikaner am Tage zuvor bis in die Gegend von Giessen gekommen waren und erwarteten sie nun an diesem Tage bei uns. Ich sass morgens am Schreibtisch und hörte zunächst in der Ferne das Geschütz- und Maschinengewehrfeuer, das sich allmählich näherte. Kurze Zeit feuerten dann einige deutsche Geschütze, die am Rande des Kappeler Waldes aufgestellt waren, verstummten aber zum Glück bald, sodass die Amerikaner ohne Kampf in Marburg einrücken konnten. Von meinem Platz am Schreibtisch aus konnte ich den Zug das Lahntal heraufkommen sehen, und bald war Marburg nun von dem verbrecherischen Regiment der Nazis befreit.
[1] In einer Vielzahl kleinerer und größerer Lager waren im Gebiet der Kernstadt Marburg Anfang des Jahres 1945 circa 1500 Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter sowie Kriegsgefangene untergebracht, die im Stadtgebiet Marburgs täglich – und keineswegs unsichtbar für die Bürger der Stadt – zu Arbeitseinsätzen herangezogen wurden. (Siehe dazu: K. Brandes, F. Brinkmann-Frisch et alt., Zwangsarbeit in Marburg 1939-1945. Geschichte, Entschädigung, Begegnung, Marburg 2005)
[2] Auszug aus dem Tagebuch von Liselotte Willkens für die Zeit vom 28. März bis zum 1. April 1945, UniA MR 312/3/11 Nr. 54. Die Transkription folgt den Schreibweisen des Originalmanuskripts.
[3] Die Bewohner Weidenhausens suchten vermutlich Schutz in den Kellern der Boppschen Brauerei am Pilgrimstein oder einem Luftschutzstollen am Kaffweg.
[4] Allein für den März 1945 wurden 52 Fliegeralarme gezählt. (Angabe nach Karl Heinz Gimbel: https://www.myheimat.de/marburg/c-lokalpolitik/vor-75-jahren-wurde-es-im-2-weltkrieg-fuer-die-bevoelkerung-von-marburg-ernst-mit-dem-schutz-vor-luftangriffen_a2771320#gallery=null)
[5] Bei der Schilderung schwarzer Soldaten wird der zuvor von den Nationalsozialisten beförderte Rassismus im Tagebuch besonders augenfällig.
[6] Umgangssprachliche Bezeichnung für Angehörige der englischen Streitkräfte.
[7] Karl Veerhoff (1893-1953) war von 1931-1945 Pfarrer an der reformierten Kirche (Universitätskirche) für den Nordbezirk der reformierten Gemeinde sowie Jugend- und Militärseelsorger. Ab dem Jahr 1933 gehörte er den Deutschen Christen an und beteiligte sich an der Bekämpfung der Bekennenden Kirche. Er wurde 1945 zunächst von der Besatzungsmacht seines Amtes enthoben, später wieder eingesetzt und 1946 von der Landeskirche in den einstweiligen Ruhestand versetzt. (Siehe: Eva Chr. Gottschaldt, Kontinuität und Neuordnung. Die evangelische Kirche nach 1945, in: B. Hafenegger, W. Schäfer, Aufbruch zwischen Mangel und Verweigerung. Marburg in den Nachkriegsjahren 2, Marburg 2000, S. 81-84)
[8] Rudolf Bultmann in einer Anlage an einen Brief vom 14.12.1945 an Friedrich Sell, UB Tübingen Mn 2_2380, hier zitiert nach der Abbildung bei Jürgen Hahn-Schröder, Friedrich Carl Sell, gute Freunde und ein Widersacher, Marburg 2022, S. 252.
[9] Bei insgesamt sechs Luftangriffen in der Zeit von 1944-45 hatte es 142 Tote gegeben, 87 Häuser wurden vollständig zerstört und 76 wurden zunächst unbewohnbar. (Angaben nach Karl Heinz Gimbel, s.o. Fußnote 4.)