16.11.2022 Die Krise bietet Chancen
Das „Bündnis für gute Arbeit“ ließ über bessere Beschäftigungsmöglichkeiten diskutieren
Müssen Stellen diesseits einer Professur weiterhin prekär bleiben, unsicher und mit vagen Berufsaussichten belastet? Gibt es Alternativen? „Die Zeit ist günstig, um die Diskussion über Personalmodelle zu führen“, behauptete der ver.di-Gewerkschafter Mathis Heinrich bei der ersten Veranstaltung des „Bündnisses für gute Arbeit“ an der Philipps-Universität Marburg. Das Bündnis hat sich vor anderthalb Jahren zusammengefunden, um bessere Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft zu erstreiten.
Wer einen akademischen Beruf anstrebt, muss nach dem Studium meist jahrelang befristete Arbeitsverträge in Kauf nehmen, nicht selten bis über das vierzigste Lebensjahr hinaus. Hinzu kommt die Abhängigkeit von Professorinnen und Professoren, die in der Regel nicht qualifiziert sind, Personal zu führen.
Immerhin: Nachdem insbesondere Gewerkschaften wie ver.di und GEW seit Jahren immer wieder auf diese unhaltbaren Zustände hingewiesen haben, ist das Thema auch in der Hochschulpolitik angekommen. „Hessen hat in seinem neuen Hochschulgesetz im vergangenem Jahr zusätzliche Personalkategorien eingeführt“, berichtete Heinrich, der im Personalrat der Philipps-Universität die wissenschaftlichen Beschäftigten vertritt. Der neu geschaffene Stellentyp von Lektor und Lektorin bietet eine Beschäftigungsperspektive diesseits der Professur. Da Lehre dauerhaft geleistet werden muss, wären diese Stellen zu entfristen.
Das Bündnis hatte neben Mathis Heinrich weitere sachkundige Gesprächspartnerinnen gewonnen, um auszuloten, wie verbesserte Arbeitsbedingungen in Forschung und Lehre aussehen könnten, etwa die Historikerin Kathrin Meißner, die sich im bundesweiten „Netzwerk für gute Arbeit in der Wissenschaft“ engagiert. Sie präsentierte einen Vergleich verschiedener Personalmodelle, wobei es auch um den Abbau von Hierarchien und die Demokratisierung der Hochschulen geht. „Unserer Meinung nach wäre ein Lecturer-Modell die optimale Variante“, sagte Meißner, wobei nach der Promotion unbefristete Stellen für Lektorinnen und Lektoren vorgesehen sind.
Die Marburger Politologie-Professorin Ursula Birsl hat selbst „jahrelang befristet in der Wissenschaft gearbeitet“, wie sie eingangs bekundete. Die derzeitige Dekanin des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften und Philosophie berichtete von aktuellen Versuchen, mehrere Professuren zu einem Fachgebiet zusammenzuschließen, das sich dann gemeinsame Stellen für wissenschaftliche Beschäftigte teilt – Stellen, die dann aufgewertet werden könnten. Mehrere schlecht ausgestattete Professuren würden auf diese Weise ihre Ressourcen bündeln, führte ver.di-Mitglied Birsl aus. Solche Überlegungen ergäben sich also „aus dem Krisenmodus“ der dauerhaften Unterfinanzierung.
Ja, die derzeitige Lage biete Umsetzungschancen für neue Personalmodelle, bestätigte Mathis Heinrich. So zeige sich das Unipräsidium offen für Vorschläge, mit geringem Budget weiterhin gute Lehre anzubieten. Unbefristete Lecturerstellen könnten dazu einen Beitrag leisten. „Wir brauchen Modellversuche“, schlussfolgerte der Gewerkschafter. Denn die Durchsetzungskraft der wissenschaftlichen Beschäftigten ist bislang gering. Zumindest gilt das für die Doktorandinnen und Doktoranden, wie die Einschätzung von Lea Reiff zeigt, die für das Marburger Bündnis die Diskussion moderierte: „Die Promovierenden sind eine extrem heterogene Gruppe.“ (js)