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Aus dem Dornröschenschlaf wecken: Neue Konzepte für die Sammlungen

Foto: Thomas Beitz

Die Sammlungen der Philipps-Universität Marburg

Die Philipps-Universität Marburg verfügt über den bedeutendsten Bestand akademischer Sammlungen in Hessen und zählt deutschlandweit zur Spitzengruppe universitärer Sammlungsstandorte. Sie beherbergt zur Zeit etwa 40 Forschungs-, Schau- und Lehrsammlungen an etwa 20 Standorten. Ihr Spektrum reicht von der Medizingeschichte über vielfältige Sammlungen der Kultur- und Naturwissenschaften bis zur weltweit unikalen Schausammlung der Religionskunde. Der Öffentlichkeit zugänglich sind die wenigsten der Millionen Objekte in den Magazinen.

Interview mit dem Sammlungsbeauftragten Dr. Sven Mecke 

Herr Mecke, was macht ein Sammlungsbeauftragter an einer Universität? 

Als Sammlungsbeauftragter bin ich verantwortlich für die Koordination von etwa 40 verschiedenen Sammlungen: von der Archäologischen Abgusssammlung über Algenkulturen bis hin zur Zoologischen Sammlung mit Elefantenskelett. In enger Abstimmung mit den Verantwortlichen der einzelnen Sammlungen - aber auch mit dem Dezernat „Gebäudemanagement und Technik“ - entwickele ich Konzepte, z. B. zur Frage "In welchen Räumen können wir einzelne Sammlungen gut und sicher unterbringen"?

Wozu braucht die Universität Sammlungen?

Die Philipps-Universität Marburg verfügt über den bedeutendsten Bestand akademischer Sammlungen in Hessen und zählt deutschlandweit zur Spitzengruppe universitärer Sammlungsstandorte. Ihr Spektrum reicht von der Medizingeschichte über vielfältige Sammlungen der Kultur- und Naturwissenschaften bis zur weltweit einzigartigen Schausammlung der Religionskunde. Die Kollektionen dienen der fachspezifischen Ausbildung, regen zu neuen Forschungsfragen an, überliefern materielle Werte und repräsentieren einzelne Fachkulturen.

Kann jeder die Sammlungen anschauen?

Der Öffentlichkeit zugänglich sind die wenigsten der Millionen Objekte, die in den Magazinen der Sammlungen schlummern. Ein breites Portfolio an Ausstellungen, Führungen und Vorträgen bietet das Kunstmuseum Marburg. Doch andere Sammlungen werden gerade aus dem Dornröschenschlaf geweckt. So werden Objekte der medizingeschichtlich-anatomischen Sammlung bald in einer Ausstellung im Universitätsklinikum zu sehen sein.

Welche Pläne gibt es für das Landgrafenschloss? 

Das Schlossfest im September war Auftakt für die Entwicklung eines Zukunftskonzepts. Die vorläufigen Ergebnisse des Dialogs mit den Bürger*innen zeigen, dass sie sich vor allem einen Bildungs- und Erlebnisort mit Unterhaltungswert wünschen, zudem auch ein zeitgemäßes Museum gehört. In diesem soll Geschichte erlebbar gemacht werden. Dr. Brigitte Franzen, Direktorin des Naturkundemuseums Senckenberg Frankfurt, formulierte es auf dem Podium treffend: „Das Landgrafenschloss ist an sich schon ein Exponat“ und ergänzte: „Museen sind nicht mehr Objekte in Vitrinen, sondern Orte, an die Menschen mit Fragen kommen; an denen Mitreden eine ganz entscheidende Rolle spielt.“ Und dies sollte natürlich ein Ziel sein.

Was macht das Landgrafenschoss und seine Ausstellung besonders?

Das Landgrafenschloss ist eine bedeutende mittelalterliche Höhenburg, meistfotografiertes Marburger Motiv mit Blick weit ins Lahntal, Wiege der Landgrafschaft Hessen und wird z. B. als Musik-Location sowie Museum genutzt. Der Fürstensaal im Obergeschoss gilt mit einer Fläche von über 480 qm als größter und schönster weltlicher Innenraum der deutschen Gotik. Im Landgrafenschloss fanden wichtige historische Ereignisse statt, beispielsweise im Jahr 1529 das Marburger Religionsgespräch zwischen Martin Luther, Ulrich Zwingli und anderen Reformatoren.

Wann wird eine Ausstellung zu einem Erlebnis?    

Übersetzungsarbeit ist gefragt, denn Forschung, die vermittelt werden soll, muss in eine sinnlich erfahrbare Raumsituation übertragen werden. Eine Sonderausstellung ist nach wenigen Monaten vorüber, aber – im besten Fall – lebt sie in der Erinnerung der Besuchenden weiter.  Bei der Konzeption einer neuen Dauerausstellung im Landgrafenschloss bewegen wir uns aber in ganz anderen Dimensionen. Der Reiz des Gebäudes und der Exponate ist außergewöhnlich. Zahlreiche Personen haben das Museum über Jahrzehnte geprägt oder wurden geprägt. Bei der Modernisierung ist daher darauf zu achten, alle abzuholen und ein neues Besuchserlebnis zu entwickeln. Etwas Neues entwickelt sich natürlich nur dann, wenn man neugierig ist und sich inspirieren lässt, den Status quo in Frage zu stellen, indem man aus verschiedenen und vielleicht auch überraschenden Quellen schöpft.

Woher kommen die Exponate der Sammlungen? 

Die Objekte werden gesammelt, gestiftet oder speziell für ein Forschungsthema oder die Lehre hergestellt, wie z. B. die Modelle in der Mathematischen Sammlung. Was man sich so ausmalt - das Sammeln à la Indiana Jones - das ist wohl eher die Ausnahme. Manche Objekte benötigte man für Lehr- und Forschungszwecke nicht mehr, weil sich Schwerpunkte änderten oder es Aufnahmen gab, die das Original vermeintlich zu ersetzen schienen. Deshalb verschwanden sie in Kellern oder auf Dachböden. Beispiele sind die Pharmakognostische Sammlung oder das Skelett des Elefantenbullen Jack, die heute wieder gute Dienste tun.

Alte Schätze - neue Technologien: Welche Chancen bietet die Digitalisierung? 

Durch Digitalisierung werden Kollektionen global zugänglich gemacht. Die Zoologische Sammlung z. B. beherbergt mit Sicherheit rund 100.000 Objekte. Aber wie öffnet man eine derart außerordentliche Kostbarkeit für einen größeren Interessentenkreis? Zum Beispiel für Wissenschaftler aus der Karibik, die nicht anreisen können? So sind z. B. die herrlich bunten, von Johannes Gundlach im 19. Jahrhundert in Kuba gesammelten Landschnecken, auf denen zahlreiche Erstbeschreibungen beruhen, bereits über die Deutsche Digitale Bibliothek abrufbar. Was einst in einem Zettelkatalog schriftlich fixiert wurde und auf den beigelegten Etiketten steht, wird gleich mit in solche Datenbanken aufgenommen.

Welche Formate könnten für Alumni interessant sein?

Interessant ist es für die Alumni sicherlich, wenn ein Blick hinter die Kulissen möglich wird. Gewiss ist vielen nicht bewusst, über wie viele Sammlungen die Universität verfügt. Sie fragen sich vielleicht: Wo verbergen sich all die nicht präsentierten Schätze? Wie läuft die Arbeit der Forscher*innen in den Kollektionen ab? Wie entsteht eine Ausstellung? Alumni-Führungen könnten exklusive Einblicke in die Sammlungsarbeit bieten. Gut vorstellen kann ich mir auch das Format einer „Object Lesson“, bei der jeweils ein Objekt präsentieret wird - mit anschließender Diskussion: sei es ein anatomisches Modell, eine besondere Pflanze aus dem Botanischen Garten oder eine eindrückliche Fotografie.  Aber das ist Zukunftsmusik - Formate, die noch generiert werden müssen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Sammlungen?

Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, die Sammlungen sichtbarer zu machen. Hierbei ist einiges denkbar: ein Tag der offenen Sammlungen, gemeinsame Ausstellungen als Verbundprojekte, Schaufenster in die Sammlungen und Citizen Science Projekte, bei denen interessierte Laien Wissen schaffen. Am allerwichtigsten erscheint es mir aber, ein Bewusstsein für die Bedeutung von Sammlungen zu schaffen, um ihre Wertschätzung zu erhöhen. Universitätssammlungen haben das „Zeug“ für objektbasierte Lehre, Forschung und Öffentlichkeitsarbeit.