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Annual Research Lecture

Foto: Julia Dippel
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Das Zentrum für interdisziplinäre Religionsforschung (ZIR) veranstaltet seit 2011 die "Annual Research Lecture", in der international renommierte Forscher/innen und Expert/innen neue akademische Impulse zur und aus der Religionsforschung präsentieren. Die Vortragsreihe richtet sich auch an die interessierte Öffentlichkeit.

  • ARL 2024 - Stumbling Toward Ecstasy: Queer and (Trans)feminist Methods in the Study of Religion, Prof. Dr. Melissa M. Wilcox

    Feminist studies, queer studies, and trans studies often seem opposed to the study of religion; many scholars either ignore religion or approach it through a classically Marxist lens as “the opium of the people.” Scholars of religion, likewise, have been slow to adopt feminist, queer, or trans studies in a widespread manner, although theologians have engaged with these fields more quickly than have descriptive-analytical scholars. Scholars of religion take religion seriously, but they frequently find the engaged, justice-oriented methods of trans, queer, and feminist studies too subjective and brand them with the insult unique to our field: “confessional.” Trans, feminist, and queer studies scholars think in complex ways about power, research methods, and reflexivity, but all too often refuse to extend that complex analysis to religion. Yet, these differences indicate gaps and resistances in each field that could be addressed with the tools of the other. This lecture offers a poststructuralist and psychoanalytic critique of the accusation of confessionalism, weaving religonists’ valuable skills of empathetic understanding together with trans/queer/feminist scholars’ insistence on the locatedness of knowledge and on reflexive and embodied research methods in order to continue my current efforts to stumble haltingly toward an ecstatic method in the study of religion.

  • ARL 2023 - Auf der Suche nach Heilung jenseits der akademischen Medizin: Potentiale, Risiken und Nebenwirkungen, Prof. Dr. Dorothea Lüddeckens

    In Deutschland versicherten Personen steht eine Hochleistungsmedizin zur Verfügung, die Organe transplantieren, Hirnoperationen erfolgreich durchführen und medikamentös Krankheiten behandeln kann, die noch vor wenigen Jahrzehnten sicher zum Tod führten. Für viele Mediziner:innen erstaunlich, suchen dennoch über die Hälfte aller Patient:innen zumindest zusätzlich in der Komplementär- oder auch Alternativmedizin nach Hilfe. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass hier das Verständnis von Heilung oft mehr umfassen möchte als «nur» den physischen Körper – und damit Heilung, heil-werden und Heil ineinander übergehen können. Die Nähe zu Spiritualität und Religion kann hier zum Potential, aber auch zum Risiko werden.

  • ARL 2022 - Die drei Ringe, oder: Über die Entstehung der Religionen im Mittelalter, Prof. Dr. Dorothea Weltecke

    Kulte und magische Praktiken hat es schon in der Steinzeit gegeben. Trotzdem ist es keine banale Frage, was „Religion“ ist und seit wann sie existiert. Auch Historikerinnen und Historiker beteiligen sich inzwischen an diesem Grundproblem der Religionswissenschaft. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive interessiert, dass die kontroversen Diskussionen darum nicht abreißen. Es ist außerdem eine Tatsache, dass der Gegenstand auch gesellschaftlich und politisch ausgehandelt werden muss. Er scheint wandelbar zu sein, mithin Geschichte zu haben. In der Erforschung der antiken Religionsgeschichte ist der moderne Begriff „Religion“ besonders fragwürdig geworden. In der Frühen Neuzeit ist er entstanden. Was hat sich zwischen dem 7. und dem 15. Jahrhundert zugetragen? Wie haben die mittelalterlichen Kulturen selbst das konzipiert, was wir heute Religion nennen? Diese beiden Fragen sollen in diesem Vortrag diskutiert werden.

  • ARL 2021 - Von der Globalisierung zur Kosmisierung von Religion,  Prof. Dr. Michael Stausberg

  • ARL 2019 - Äpfel, Birnen, Religionen: Problematik und Nutzen des Religionsvergleichs, Prof. Dr. Oliver Freiberger

    In vielen wissenschaftlichen Disziplinen ist der Vergleich eine bewährte Methode, die zur Beantwortung verschiedenenartiger Forschungsfragen beiträgt. Explizit vergleichende Studien zu Religion, insbesondere solche mit interkultureller Perspektive, sind aber in den letzten Jahrzehnten aus der Mode gekommen – so sehr, dass der Begriff „Religionsvergleich“ im Titel dieses Vortrags schon leicht antiquiert klingt. Ein wichtiger Grund dafür liegt in Entwicklungen in den Geistes- und Kulturwissenschaften, die die kontextuelle Eingebundenheit religiöser Phänomene betonen und die Anwendung westlich geprägter Begriffe und Vorstellungen auf nicht-westliche Kulturen als Ausdruck eines neo-kolonialen oder neo-imperialistischen Machtgefälles identifizieren. In der Religionswissenschaft wird vergleichende Forschung darüber hinaus oft mit der klassischen Religionsphänomenologie assoziiert und mit unerwünschten Aktivitäten wie Dekontextualisierung, Essenzialisierung und Universalisierung religiöser „Phänomene“. Dieser Vortrag geht von der Prämisse aus, dass Wissenschaft als solche ohne Vergleich unmöglich ist und untersucht, was dies für die erwähnte Kritik bedeutet. Er fragt genauer nach: Was soll man unter „Religionsvergleich“ eigentlich verstehen? Was wird verglichen, wie und warum? Woraufhin werden Dinge verglichen? Kann es einen verantwortungsvollen Religionsvergleich geben, und wenn ja, welche Art von Erkenntnissen kann man von ihm erwarten? Lernen wir aus vergleichenden Studien etwas über Religion, das wir ohne sie nicht wissen können? Diese Fragen werden anhand von ausgewählten Beispielen aus Geschichte und Gegenwart erörtert.
  • ARL 2018 - Panna tartarica und Onggod aus Filz, Prof. Dr. Karénina Kollmar-Paulenz

    Die Religions- und Zentralasienwissenschaftlerin Prof. Dr. Karénina Kollmar-Paulenz (Universität Bern) sprach im Jahr 2018 zu Herrschaftsrepräsentation und religiöse Kommunikation während der Mongolenzeit im Spiegel materieller Kultur.

  • ARL 2017 - Vom Sandkorn bis zum Hochgebirge: Zu den religiösen Vorstellungen der englischen Romantiker, Prof. Dr. Christoph Bode

    Das Zentrum für interdisziplinäre Religionsforschung lädt auch dieses Jahr herzlich zur Annual Research Lecture in die Aula der Alten Universität (Lahntor 3) am 11. Juli um 18 Uhr c.t. ein. Unser diesjähriger Redner wird der Anglist Prof. Dr. Christoph Bode von der Ludwig-Maximilians-Universität München sein. Sein Vortrag "Vom Sandkorn bis zum Hochgebirge: Zu den religiösen Vorstellungen der englischen Romantiker" zielt darauf ab, die ganze Bandbreite vom Mystiker Blake (für den das Sandkorn steht) über den Deisten Wordsworth und den "Unitarian turned Anglican" Coleridge bis zum Atheisten Shelley (Mont Blanc) auszumessen, um dann am Ende zu diskutieren, dass gerade diese heterogene Bandbreite die Romantik ausmacht.
  • ARL 2016 - Annual Research Lecture und internationaler Workshop des ZIR am 10. und 11. November 2016 mit Prof. David Morgan

    Am Donnerstag, dem 10. November 2016, fand die sechste Annual Research Lecture des Zentrums für interdisziplinäre Religionsforschung (ZIR) in der Aula der Alten Universität statt. In diesem Rahmen werden in einer öffentlichen Vorlesung neue akademische Impulse zur und aus der Religionsforschung präsentiert und zur Diskussion gestellt. Die Geschäftsführende Direktorin, Prof. Edith Franke begrüßte das Auditorium und Prof. Bärbel Beinhauer-Köhler stellte den diesjährigen Redner, den Kunsthistoriker und Religionswissenschaftler Prof. David Morgan von der Duke University in North Carolina mit einer kurzen Laudatio vor. Der auf dem Gebiet der „Material Religion” international renommierte Forscher sprach über "Technologies of the Sacred: Situation and Recalcitrance in the Production & Destruction of Sacrality". Unter den "Technologien des Heiligen" versteht David Morgan die kulturellen Techniken, bei denen ein Objekt als etwas Besonderes herausgehoben und durch diesen Prozess machtvoll wird, oder – im Kontrast dazu – diese Macht entzogen oder verweigert bekommt. Er erläuterte diese Situation und Widerspenstigkeit in der Produktion und Destruktion von Sakralität anschaulich an den wechselnden Zuschreibungskontexten der sogenannten "Stab-Götter" (atua rakau) von den Cookinseln im südlichen Pazifik: Von protestantischen Missionaren als "Götzen" verfemt und zerstört, als "Trophäen der Christenheit" in Missionsmuseen zur Schau gestellt, als "ethnologische Artefakte" oder als "Kunstwerke" wieder aufgewertet und eventuell als "Erbe" in ihre Ursprungsorte zurückzugeben. Eine rege Diskussion auf Englisch und Deutsch schloss sich an den Vortrag von David Morgan an. Dank der freundlichen Unterstützung des Ursula-Kuhlmann-Fonds gab es im Anschluss an den Vortrag einen kleinen Empfang im Kreuzgang der Alten Universität.

    Mit dem Thema "Religions on the Move: Materiality and Migration" schloss sich am nächsten Tag ein hochkarätig besetzter, internationaler Workshop an, der von etwa 30 Teilnehmern/innen aus verschiedenen Städten – darunter auch zahlreiche Nachwuchswissenschaftler/innen – besucht wurde. Die internationalen Vortragenden waren neben David Morgan der bekannte Museumsexperte und Mitherausgeber der Zeitschrift "Material Religion" Crispin Paine aus London, der über Freizeitparks als Orte für Religion in der Moderne (neben Museen) sprach. Aus St. Petersburg waren Dr. Ekaterina Teryukova, Vizedirektorin des Staatlichen Museum für Religionsgeschichte, und Marianna Shakhnovich, Professorin für Religionsphilosophie an der staatlichen Universität von St. Petersburg, angereist. Erstere sprach über die Migration von Objektsammlungen anhand des Beispiels der Rolle von Evgenii Shilling als Sammler muslimischer Relikte aus dem dagistanischen Bergdorf Chokch. Marianna Shakhnovich gab dazu eine Response anhand von Beispielen antik-orientalischer Artefakte und deren Rolle im russischen Diskurs des Panbabylonismus. Alexander-Kenneth Nagel, Professor für Religionswissenschaft mit dem Schwerpunkt sozialwissenschaftliche Religionsforschung an der Georg-August-Universität Göttingen, referierte über die Präsenz und Vermittlung religiöser Vielfalt durch "Räume der Stille" in Krankenhäusern. An die Impulsvorträge schlossen sich rege Diskussionen an und machten deutlich, dass die Frage der Materialität von religiösen Kulturen in verschiedenen Forschungs- und Praxiskontexten eine hoch relevante Thematik darstellt. Zum Abschluss führte Konstanze Runge die Teilnehmer/innen des Workshops durch die Religionskundliche Sammlung.

  • ARL 2015 - Bericht zur 5. Annual Research Lecture von Prof. Dr. Christoph Kleine im Rahmen des Zentrums für Interdisziplinäre Religionsforschung (ZIR) der Philipps-Universität Marburg am 27.10.2015

    Zur mittlerweile fünften Annual Research Lecture des Zentrums für Interdisziplinäre Religionsforschung (ZIR) als zentraler Einrichtung der Philipps-Universität Marburg ist es den Organisatorinnen und Organisatoren des ZIR gelungen, mit Prof. Dr. Christoph Kleine einen exzellenten Religionswissenschaftler und Japanologen als Redner zu gewinnen, der in hervorragender Weise sowohl im Bereich der Religionsgeschichte Ostasiens als auch im Bereich der Theorie und Methodologie der Religionswissenschaft profiliert ist. Anhand einer fruchtbaren Verbindung empirischer Einblicke in die Religionsgeschichte Japans und theoretischen Reflexionen zur Säkularisierungsdebatte liefert Prof. Dr. Christoph Kleine brillante, innovative und gehaltvolle Reflexionen und Ergebnisse zum Thema „Ist Gott tot? Und wenn ja, welcher, wo und seit wann? Ein kleiner Beitrag zum Problem der Säkularisierung.“ Mit seinem Vortrag trägt er den Zielen des Zentrums in idealer Weise Rechnung, die Bedeutung religiöser Vorstellungen und Systeme für das menschliche Zusammenleben in modernen Gesellschaften interdisziplinär und multiperspektivisch zu erfassen. Säkularisierung als einer der schillerndsten und umstrittensten Begriffen in der Religionswissenschaft und Religionssoziologie, der seine Aktualität seit Beginn der Fachgeschichte nicht eingebüßt hat, wird anhand der Ergebnisse zur Religionsgeschichte Japans jenseits eines modernisierungstheoretisch enggeführten, mit einer atheistisch-politischen Agenda verbundenen Säkularisierungsbegriffs, aber auch jenseits postkolonialer Theorien einer prinzipiellen Unübertragbarkeit von Begriffen wie Religion und Säkularisierung auf außereuropäische Kontexte konzeptualisiert.

    Anekdotisch hält er zunächst fest, dass Vorstellungen eines Niederganges von Religionen im Zuge eines linear und evolutionistisch verstandenen Modernisierungsprozesses sich trotz der alltagsempirischen Befunde einer nach wie vor großen Bedeutung von Religionen sowohl in gesellschaftlichen als auch in politischen Zusammenhängen nach wie vor hartnäckig halten und wissenschaftlich vertreten werden. Fundamentalismen gelten gemäß diesem Deutungsmuster als ein letztes Rückzugsgefecht der unter Druck geratenen Religionen, die schließlich überwunden werden oder, in einer pessimistischen Sicht, den Modernisierungsprozess schließlich umkehren, da sie mit ihm prinzipiell unvereinbar seien. Umgekehrt werden gemäß diesem Paradigma Modernisierung und Säkularisierung als untrennbar miteinander verbunden gedacht. Einer solchen mit einer eurozentrischen politischen Agenda verbundenen Deutung von Säkularisierung setzt er ein Verständnis von Säkularisierung als einer diskutierbaren Prozesskategorie entgegen, die mit José Casanova anhand von verschiedenen Indikatoren erfasst werden kann:
    1. Differenzierung von religiösen und anderen Handlungsfeldern,
    2. Rückgang religiöser Praktiken und Überzeugungen sowie
    3. Privatisierung von Religiosität.

    Diese Prozesse treten, so führt Prof. Dr. Kleine im folgenden kurz an Deutschland und den USA und schließlich ausführlich anhand einer historischen und etymologischen Tiefenbohrung japanischer Religionsgeschichte aus, nicht überall in gleicher Weise auf, sondern bestehen mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Angesichts dieser Feststellung sei es erforderlich, nicht nur von „multiple modernities“, sondern auch von „multiple secularities“ auszugehen und den Säkularisierungsprozess anhand operationalisierter Kategorien kontextuell greifbar zu machen. Quantitative Erhebungen, so illustriert er anhand der Gegenüberstellung zweier Studien, gehen mit ihren eurozentrischen Fragekategorien an sozialen Realitäten  und den Bedeutungskategorien der Beforschten vorbei und liefern lediglich verzerrte Beiträge zur Beantwortung des Säkularisierungsgrades außereuropäischer Kulturen. So konstatiere der World Value Survey, dass Japan eine in hohem Maße atheistische und säkulare Gesellschaft sei, während das Amt für kulturelle Angelegenheiten eine hohe, von multiplen Zugehörigkeiten und Praktiken geprägte Alltagsreligiosität feststellt. Diese scheinbar unvereinbaren Diagnosen sind auf differente Kategorien der Einordnung als religiös oder säkular zurückzuführen. Die bloße Übersetzung von Begriffen wie Religion, auf japanisch shukyo, sei problematisch, da man die konkreten Bedeutungen reflektieren müsse. Shukyo werde als dogmatischer Religionsbegriff überwiegend abgelehnt und führe nicht zu einer Identifikation, was das Ergebnis des World Value Surveys erkläre. Statt organisierter, exklusivistischer, mit einem systematischen Glaubensgebäude verbundenen Religionen lasse sich in Japan die Verbreitung von „practically religions“ zeigen, die durch eine diesseitige Zweckrationalität sowie Traditionen geprägt seien und daher am Religionsverständnis westlicher Wissenschaftler vorbei gehen. Angesichts solcher Problematiken hinsichtlich der Operationalisierung des Religions- und Säkularisierungsbegriffs wird die Frage nach der Säkularisierung in Japan unterschiedlich beantwortet: Die Anhänger der klassischen Säkularisierungstheorie stehen den Postkolonialisten gegenüber, die das Konzept der Religion als politische westliche Erfindung erachten und mit Verweis auf das Fehlen sprachlicher Äquivalente in Japan davon ausgehen, dass es eine Trennung von Religion und nicht-religiösen Handlungsbereichen in Japan nicht existierte. Dem widerspricht Prof. Dr. Christoph Kleine vor dem Hintergrund seiner Forschungen: Soziales Handeln wurde auch vor der Modernisierung Japans anhand des Modells einer Welt für den Herrscher und einer Welt für den Buddha in weltliche und religiöse Bezugskontexte und Handlungsfelder differenziert. Das Konzept der beiden Welten beruhe auf der Vorstellung einer auf einem komplementären Zusammenspiel beruhenden Trennung weltlicher und religiöser Bereiche mit je eigenen Handlungslogiken. Auf dieses Konstrukt, so erläutert er im folgenden, griffen die Reformer in der Meji-Zeit zurück, um westliche Modelle auf eine kreative Weise zu adaptieren und zu indigenisieren.
    Kulturkontakt führe nicht zu einer aufoktroyierten Übernahme der Konzepte dominanter Kulturen, sondern münde in kreativen und selektiven Adaptionsprozessen, die an indigene Konzepte angeknüpft werden. Modernisierung und Säkularisierung erscheinen aus dieser Perspektive nicht nur als kolonialistische, sondern auch als von japanischen Eliten angeeignete und instrumentalisierte Konzepte.

    Angesichts dessen resümiert Kleine, dass es auch in der Geschichte außereuropäischer Gesellschaften und Kulturen immer institutionell und kulturell-symbolisch verankerte Formen und Arrangements der Unterscheidung zwischen Religionen und anderen gesellschaftlichen Bereichen und Handlungsfelder existierten, die jedoch einem permantenten gesellschaftlichen Aushandlungsprozess unterliegen, den es kontextuell zu analysieren gelte. Die Postkolonialisten, so legt er im folgenden dar, erliegen dagegen mit ihrer Deutung eines westlichen Anspruchs auf den Religions- und Säkularisierungsbegriffs der Gefahr des „exotischen Exzeptionalismus“, der historisch nicht haltbar ist: Die Unterschiedlichkeit von Kulturen werde stilisiert, so dass Europa im Sinne eines reformierten Eurozentrismus als besonderes und historisch einmaliges Gebilde dargestellt wird, das sich essentiell von außereuropäischen Kulturen unterscheide. Diese Theorie werde von den nationalkonservativen Kräften in Japan genutzt, um Säkularisierung als westliche Erfindung zu bekämpfen, so dass Prozesse des othering und des self-othering ineinander greifen und zu vermutlich ungewollten politischen Allianzen führen. Programmatisch fordert er, bei aller Schwierigkeit interkultureller Vergleiche keine kulturimperialistischen Deutungshegemonien herzustellen. Vielmehr sei es die Aufgabe einer ideologiekritisch ausgerichteten Religionswissenschaft im Sinne des Marburger Religionswissenschaftlers Kurt Rudolph, solche Deutungshegemonien und ihre sozialen Konsequenzen aufzudecken. Mit polyzentrischen Perspektiven auf selektive und kreative Prozesse der Aneignung kulturfremder Konzepte solle einem solchen Kulturimperialismus entgegen gewirkt werden.
    Der tosende Applaus im vollen Saal der Alten Aula sowie die äußerst lebhafte Diskussion am Ende des Vortrags zeugen von der Exzellenz des Vortrags, der den Zuhörenden und den Mitgliedern des ZIR wertvolle Impulse zur eigenen Arbeit geliefert hat. Für die erfolgreiche und inspirierende fünfte Annual Research Lecture in der ehrwürdigen, sehr gut besuchten Alten Aula danken wir Prof. Dr. Kleine sehr herzlich.

    Last but not least möchten wir Prof. Dr. Christoph Kleine sowie seiner Kollegin Prof. Dr. Monika Wohlrab-Sahr (Kulturwissenschaften/Religionssoziologie) sehr herzlich zur DFG-geförderten Einrichtung einer Kolleg-Forschergruppe gratulieren, die ab dem 1.4.2016 zunächst für vier Jahre die Arbeit an einem internationalen Verbundprojekt mit dem Titel „Multiple Secularities – Beyond the West, Beyond Modernites“ an der Universität Leipzig aufnehmen wird.
     
    Verena Maske

  • ARL 2014 - Plädoyer für einen pragmatischen Religionsbegriff, Dr. Martin Riesebrodt

    Am 15. Oktober 2014 hielt  Prof. Dr. Martin Riesebrodt (em. University of Chicago) ein "Plädoyer für einen pragmatischen Religionsbegriff":

    Seit Jahrzehnten konkurrieren verschiedene Religionsbegriffe miteinander, wie etwa ein phänomenologischer, ein funktionalistischer und ein postmoderner. Sie konstruieren den Gegenstand der Religion unterschiedlich, indem die einen das persönliche Erlebnis der Transzendenz, die anderen die Leistung von Religion für die Gesellschaft oder die politisch gewollte Differenzierung von Religion in der westlichen Moderne betonen. In diesem Vortrag will ich in Abgrenzung zu ihnen einen pragmatisch orientierten Religionsbegriff ins Zentrum stellen und zeigen, was er leistet: er berücksichtigt religiöse Innenperspektiven, indem er sie systematisiert; nimmt den Eigensinn religiösen Handelns ernst; gestattet transhistorische und transkulturelle Religionsvergleiche und öffnet die Religionsforschung für sozialkritische Analysen.

  • ARL 2013 - Jesus’s Marital Status: What a New Papyrus Fragment Can (or Can’t) Tell Us, Prof. Karen L. King

    Am 10. Juni 2013 sprach Karen L. King, Hollis Professor of Divinity, (Harvard Divinity School, Cambridge/Massachusetts) über "Jesus’s Marital Status:

    What a New Papyrus Fragment Can (or Can’t) Tell Us":The lecture will address the question of how to interpret a new Coptic papyrus fragment containing a dialogue between Jesus and his disciples in which Jesus speaks of “my wife.”  The paper will first summarize what early Christian literature says about Jesus’s marital status in discussions of sexual ethics (marriage and celibacy) and incarnational theology.  It will then turn to analyze the fragment and offer a thesis that, while the fragment offers no historically grounded evidence about whether Jesus was married or not, it does illustrate a new context in which the topic was raised:  family and discipleship.

    Der Vortrag stellt die Frage, wie ein neu entdecktes koptisches Papyrusfragment zu interpretieren ist, in dem Jesus im Gespräch mit seinen Jüngern von „meiner Ehefrau“ spricht. Der erste Teil des Vortrags sichtet die frühchristliche Literatur hinsichtlich des Familienstands Jesu in Verbindung mit Fragen der Sexualethik (Heirat und Zölibat) sowie der Inkarnationstheologie, während im zweiten Teil das Papyrusfragment analysiert und eine Hypothese dazu formuliert wird: Obwohl das Fragment keinen historisch fundierten Beweis für den Familienstand Jesu liefert, wirft es dennoch ein Licht auf den neuen Entstehungskontext seines Themas – Familie und Jüngerschaft.

  • ARL 2012 - Die populäre Religion und die neue Spiritualität, Prof. Dr. Hubert Knoblauch

    Am 20. Juni 2012 sprach der Soziologe Prof. Dr. Hubert Knoblauch von der Technischen Universität Berlin über "Die populäre Religion und die neue Spiritualität":

    Während die einen nach wie vor von einer säkularisierten Gesellschaft ausgehen, sind andere der Meinung, wie befänden uns in einem dramatischen Prozess der Wiederverzauberung, der Re-Sakralisierung oder einem "postsäkularen" Zeitalter. In diesem Vortrag möchte ich dagegen die These vertreten, dass die Religion ihre Gestalt in dem Maße verändert, wie die gegenwärtige Gesellschaft grundlegenden Veränderungen unterworfen ist. Die Transformation der Religion lässt sich insbesondere an ihrer ausgeprägten Popularisierung beobachten, die unter dem Begriff der populären Religion gefasst wird. Deswegen bildet die Popularität der Religion einen Schwerpunkt des Vortrags. Inhaltlich zeichnet sich der Wandel der Religion durch eine verstärkte Betonung des Subjektiven aus, die mit dem Begriff der Spiritualität bezeichnet werden kann, die sich von einer "alternativen" zu einer "populären Spiritualität" wandelt. Der Begriff der Spiritualität bildet deswegen den zweiten Schwerpunkt des Vortrags, der mit einem Ansatz zur soziologischen Erklärung dieser Transformation enden wird.

  • ARL 2011 - "Präsenz" als theologischer und kulturwissenschaftlicher Begriff. Dynamiken, Tendenzen, Perspektiven im 21. Jahrhundert, Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Ulrich Gumbrecht

    Mit Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Ulrich Gumbrecht (Stanford University, California) war es den verantwortlichen Organisatorinnen des ZIR gelungen, einen der bedeutendsten und einflussreichsten Intellektuellen der Gegenwart, der (neben 7 weiteren internationalen Ehrendoktortiteln) auch Ehrendoktor der Universität Marburg ist, am 14.6. für die erste Annual Research Lecture des Zentrums zu gewinnen. Trotz der Parallelveranstaltung im Schloss war die Große Aula hervorragend besetzt, und der Redner erfüllte mit seinem brillanten Vortrag, zu dem auch KollegInnen der Nachbaruniversitäten Gießen und Göttingen angereist waren, alle Erwartungen des Publikums. Eingebettet in eine höchst stimmige Gesamtveranstaltung mit erstrangiger musikalischer Umrahmung durch Maike Gotthardt, Christian Kienel und Astrid Niebuhr (alle Klarinette) markierte Prof. Gumbrechts Vortrag zum Thema Präsenz als theologischer und kulturwissen­schaftlicher Begriff. Dynamiken, Tendenzen, Perspektiven im 21. Jahrhundert den festlichen Auftakt dieser neuen Vortrags­reihe des Zentrums, die Einblicke in innovative Perspektiven und Ergebnisse religionsbezoge­ner Forschung geben möchte.

    In den letzten Jahrzehnten wird auch von einer breiteren Öffentlichkeit wahrge­nommen, dass Religionen - entgegen der Annahme eines fortschreitenden Bedeutungsverlustes - auch in der Gegenwart ein wesentliches Element des gesellschaftlichen und politischen Lebens ausmachen. Die religiös-kulturelle Plura­lität der gegenwärtigen Gesellschaften ist unüberseh­bar; und in Begründungs­mustern für Ordnungen und Formen des sozialen Lebens, aber auch bei der Verteilung von Gütern und im Hinblick auf Fragen menschlicher Existenz zeigen sich religiös geprägte Orientierungen, Begründungsmuster und Institutionen. Religionen sind als Bezugspunkte individueller aber auch kollektiver Zugehörigkeiten in vielfältiger Hinsicht und mit ambivalenter Wirkung im gesellschaftlichen Leben gegenwärtig.

    Das Zentrum für Interdisziplinäre Religionsforschung hat es sich zur Aufgabe gemacht, die vielen disziplinären Perspektiven auf das Thema Religion an dieser Universität zu bündeln und damit einen Raum zu schaffen, in dem über Fächer- und Fachbereichsgrenzen hinweg eine komplexe und differenzierte Sichtweise auf das Thema Religion erfolgen kann. Religiöse Phänomene und Traditionen kommen dabei sowohl in ihren historischen, als auch in ihren zeitgenössischen  gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten in den Blick. Mit einer Forschungsperspektive, die sowohl religionswissenschaftliche als auch theologische, historische, philologische, soziologische, ethnologische und auch philosophische Herangehensweisen verbindet, möchten wir der Komplexität und vielschichtigen Problematik religiöser Kulturen Rechnung tragen und so neue Einblicke in die Funktion und Bedeutung religiöser Vorstellungen und Systeme für das menschliche Zusammenleben/moderne Gesellschaften ermöglichen.

    Der Vortrag von Prof. Gumbrecht trug diesen Zielen des Zentrums in hervorragender Weise Rechnung, indem er nicht nur wiederholt konkret auf dessen Arbeit und Projekte Bezug nahm, sondern auch nachhaltige Impulse für dessen künftige Forschungsvorhaben gegeben hat. Prof. Gumbrechts Bereitschaft, den von ihm entwickelten Präsenzbegriff in der Anwendung auf die Forschungsinteressen des ZIR zu teilen war ebenso beeindruckend wie wegweisend, da er diesen ebenso auf theologische wie kulturwissenschaftliche Fragestel­lungen angewendet hat. Das Denken der „Präsenz“ impliziert, dass Dinge des Lebens nicht nur in ihrer rational erfassbaren, sondern auch wieder in ihrer sinnlichen Präsenz wahrgenommen werden. Prof. Gumbrecht plädiert dafür, sich auf das unmittelbare Erleben der Dinge einzulassen. Dabei sieht er einen Riss zwischen dem empfin­denden Ich und seiner Umwelt, so dass eine un­mittelbare Wahrnehmung der Dinge dieser Welt unmöglich geworden ist. Dagegen versucht er, ein Verständnis des menschlichen Daseins zu setzen, das der Kategorie des Raumes und des Körpers eine besondere Stellung zugesteht. Gerade Körper­erfahrungen sind, seinem Ansatz gemäß, ein Reservoir, aus dem Sinnbildungsprozesse ihre Energie zur Bildung neuer Sinnwelten ableiten. Prof. Gumbrechts Präsenzbegriff hat somit einen Ort außer­halb der logozentrischen (cartesia­nischen) Interpretation. Er verhandelt das in der Zeitdauer der Reflexion und der Sinnbildung Übersehene, Vergessene, das parallel zur (logozen­trischen) Sinnschöpfung jedoch immer schon Vorhandene. Somit macht Prof. Gumbrecht jenseits des cartesianischen Dualismus von Körper und Geist eine (idealtypi­sche) binäre Typologie von Sinnkultur ("meaning culture") und Präsenzkultur ("presence culture") auf. Aus der Oszillation zwischen "presence effects and meaning effects" entsteht ästhe­tische Erfahrung, wobei die Anteile dieser beiden Komponenten in den Künsten unterschiedlich groß sind.

    Der minutenlange Applaus nach dem grandios strukturierten und auch für Fachfremde hervorragend verständlichen Vortrag und die anschließenden höchst angeregten Gespräche und Diskussionen der Zuhörer untereinander sowie mit dem Redner im Kreuzgang der Alten Aula bis spät in die Nacht zeugten eindrucksvoll von der Exzellenz dieser Annual Research Lecture 2011 des ZIR der Universität Marburg.


    Ansprechpartnerinnen:





    Das Vortragsplakat als PDF